Veröffentlicht am 12.04.22

Was Hänschen nicht lernt … (Teil I)

Kritische Statements zur Digitalisierung in der Grundschule

Seit mehr als 30 Jahren wiederholen sich Diskussionen über Sinn und Unsinn von Informationstechnik in Bildungseinrichtungen. Die Pandemie mit Kontaktsperren und Schulschließungen hat die Diskussion beschleunigt. Digitaltechnik wurde in Coronazeiten ohne Diskussion flächendeckend eingesetzt. Jetzt soll daraus das „neue Normal werden, möglichst ab der Kita. Je früher desto besser – oder nicht?

Von Digitalisierung und digitaler Transformation zu Digitalität

Die Definition wichtiger Begriffe ist Voraussetzung für das Verstehen der Zusammenhänge. Digitalisierung als Substantiv, digitalisieren als Verb bedeutet, beliebige Information maschinenlesbar zu machen. Ob Text oder Bild, Mimik oder Gestik, Raumtemperatur oder Luftfeuchtigkeit: Alles wird durch entsprechende Sensoren, Kameras oder Mikrofone aufgezeichnet und technisch zu Daten und Datensätzen konvertiert. Diese Digitalisate werden anschließend nach der Logik von Datenverarbeitungssystemen – alle Rechner sind Datenverarbeitungssysteme – mit Hilfe entsprechender Programme be- und verarbeitet. Algorithmen sind Handlungsanweisungen (Operationsbefehle), wie Rechner Daten verarbeiten.

Spricht man von Digitalisierung im Kontext von Sozialsystemen (Arbeit, Bildung, Gesundheit), bedeutet Digitalisierung, dass Daten über menschliches Verhalten, seine Psyche und Emotionen (5-Faktorenmodell, s.u.) aufgezeichnet und maschinenlesbar gemacht werden. Digitale Transformation bezeichnet die Forderung der IT- und Wirtschaftsverbände, zunehmend alle menschlichen Lebensbereiche nach den Parametern und Anforderungen von Datenverarbeitungssystemen der Datenökonomie umzustrukturieren und der Logik von Algorithmen und Berechenbarkeit anzupassen. Die Konsequenz: Es zählt nur noch, was als Daten erfasst (datafiziert) und algorithmisch berechnet und gesteuert werden kann. Denn das ist der Dreisatz der Digitaltechnik: Automatisieren, Digitalisieren, Kontrollieren. (Zuboff 1988) Nicht mehr der Mensch mit seinen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt technischer Anwendungen, sondern die Effizienz und Optimierung der Datenverarbeitungssysteme. Die Leitdisziplin der Digitalisten ist Big Data oder – da Big Data sehr nach Big Brother klingt – die vermeintlich objektivierenden Data Sciences.

Der relativ neue Begriff Digitalität soll die digital codierte Verbindung zwischen Menschen, zwischen Menschen und Objekten und zwischen den Objekten des „Internet of Things (IoT) umfassen. Statt der eher technischer Definitionen der Digitalisierung sollen mit dem Kunstbegriff der Digitalität soziale und kulturelle Praktiken beschrieben werden, ähnlich dem (ebenso ungenauen) „digital lifestyle“. Der Begriff beschreibt de facto die Akzeptanz der Allgegenwart und permanenten Interaktion von Menschen mit digitalen Endgeräten und Dominanz netzbasierter Diensten. Es ist, getarnt als Fortschritt, die Zustimmung zur Selbstentmündigung und Steuerung menschlichen (Lern)Verhaltens durch Software, wenn „KI-basierte Avatare als empathische Lernbegleiter“ Lehrkräfte ersetzen (Herkersdorf, 2020) oder digitale Endgeräte von einem Schulleiter (!) zu „Lernbegleitern“ geadelt werden, um Lehrkräfte zu sparen. (Lebert 2021)

Damit wird im Gewand einer kulturwissenschaftlichen Diskussion der Raum für das bereitet, was Marc Zuckerberg (Meta, vormals Facebook) als kommerzielles Metaverse (dt. Metaversum) auf den Markt bringen will: Das Verschmelzen von realer und virtueller Welt als neuer Geschäftsbereich und das Interagieren mit virtuellen statt realen Personen. Eingeführt hat den Begriff Virtual Reality der Science-fiction-Autor Neal Stephenson 1992 in seinem Roman „Snow Crash“ – eine Dystopie. Die Story: In den USA herrschen nach einer schweren Wirtschaftskrise hohe Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Viele Menschen flüchten daher in virtuelle Scheinwelten.

Vermessen statt Unterrichten

Für alle drei Digital-Begriffe wird Alternativlosigkeit behauptet, der Mensch als selbstbestimmt handelndes Subjekt negiert. Für den Bildungssektor forcieren Akteure der Global Education Industries (GEI) und StartUps der eLearning- und EdTech-Branche (Education Technologies) den Einsatz von Digitaltechnik, neben den bekannten (formal gemeinnützigen) Stiftungen. Damit verbunden ist ein Paradigmenwechsel, der aus dem angelsächsischen Raum massiv nach Europa drängt: Privatisierung und Kommerzialisierung von Bildungseinrichtungen. Bildung wird zum Geschäftsfeld. Wer „Bildung“ als Dienstleistung verkaufen will, muss Bildungsprozesse als steuer- und messbar behaupten und Erfolgskontrollen per Qualitätsmanagement (QM) garantieren. Dafür müssen Lernprozesse standardisiert und kleinteilig mess- prüfbar werden. Das ist das Feld der empirischen Bildungsforschung als Teildisziplin der Psychologie. Das Ergebnis: Messmethoden für Lernleistungen statt Pädagogik und Didaktik.

Derlei Ideen sind nicht neu.Vorläufer und Impulsgeber war z.B. William Stern, Vordenker der Allgemeinen Psychologie. Er prognostizierte bereits im Jahr 1900 die „Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens“. Stern und Kollegen wie Hugo Münsterberg postulierten 1912 als psychotechnische Maxime: „Alles muss messbar sein.“ Dafür entwickelten Psycho-Ingenieure passende Psycho-Techniken. Darauf baut die „Lehre der unbegrenzten Formbarkeit des Einzelnen“ auf . (Gelhard, 2011, 100) Der Psychologe David McClelland leitete daraus sogar das „pädagogische Versprechen einer umfassenden Formbarkeit des Menschen“ ab. (ebda., 120).

Auch Emotionen sind nach diesem Verständnis Kompetenzen, die man trainieren und zur Selbstoptimierung verändern kann. Dazu dient u.a. das Fünf-Faktoren-Modell (engl. OCEAN) nach Louis Thurstone, Gordon Allport und Henry Sebastian Odbert. Die Persönlichkeitsmerkmale Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extrovertiertheit, Verträglichkeit und emotionale Stabilität ergeben in der jeweiligen Stärke und wechselseitigen Abhängigkeiten präzise Abbilder der Persönlichkeitsstruktur, der mentalen und psychischen Belastbarkeit, des emotionalen wie sozialen Verhaltens, der sexuellen Präferenzen u.v.m. Der Mensch und seine Psyche werden transparent, das Individuum steuerbar.
Datafizierung und Datenbanken statt Dialog

Dazu muss man personalisierte Daten erfassen und auswerten. Das ermöglichen digitale Endgeräte. Die Identifikation der Probanden erfolgt durch Login und Nutzerverhalten. Die personalisierten Daten werden zu Profilen mit charakteristischen Merkmalen von Personen kondensiert – die sogenannten digitalen Zwillinge. Menschliches Verhalten wird per Web und App modifiziert (Nudging, Selftracking) oder manipuliert (Influencing, Propaganda, Werbung). Automatisierte Beschulung wird zur algorithmisch berechneten Prognostik, um Probanden zum Erreichen extern vorgegebener Lernziele zu führen. Software mit vergleichbaren Aufzeichnungs- und Steuerungspotentialen kommen aktuell verstärkt als Lernsoftware, Serious Games und Virtual Reality (VR)-Anwendungen in die Bildungseinrichtungen, bereits an der Kita.

Bloss: Medientechnik als Ersatz der Lehrkräfte scheitert seit mehr als 30 Jahren regelmäßig. Nutzen und Mehrwert digitaler Medien für Lernprozesse sind nicht nachgewiesen. Im Gegenteil. John Hattie weist in seiner Meta-Analyse „Visible Learning“ nur einen geringen Nutzen von IT im Unterricht aus. (Hattie, 2009; aktualisiert durch Hattie; Zierer, 2016; Zierer 2020) Der OECD-Bericht „Students, Computers and Learning: Making the Connection“ (2015) zeigt: Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt nicht zu besseren Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Das gleiche Ergebnis zeigte ein BYOD Projekt in Hamburg , Kammerl 2016) und die OECD-Studie zu Resilienz und Bildungsgerechtigkeit. Daher gehört es mittlerweile zur Strategie der Digitalbefürworter, bereits die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert von Medientechnik im Unterricht als bewahrpädagogisch und überflüssig zu delegitimieren.(Krommer 2020) Der Trick: Krommer, Wampfler &Co. fragen nicht nach dem möglichen Nutzen oder Mehrwert von digitaler Medien im Unterricht, sondern fordern umgekehrt „Unterricht unter Bedingungen der Digitalisierung“. (ebda.) Wer Digitaltechnik als Prämisse setzt, muss deren Einsatz nicht begründen. Nur sagt diese Setzung gerade nichts über Nutzen, Sinn oder Unsinn von Technik im Unterricht aus, sondern nur über die Setzung.. Technikeinsatz alleine ist kein pädagogisches Konzept.

Präsenzunterricht als Normalfall

Wir stehen vor grundlegenden Entscheidungen. Welche Form von Unterricht, Lehre und Bildung wollen wir? Ist es weiterhin Aufgabe der Pädagogik„Verstehen zu lehren“? (Gruschka, 2011) Oder bestimmen Parameter der produzierenden Industrie (Produktion von Humankapital mit validierten Ergebnissen) und der Daten-Ökonomie das Lehren und Lernen? Ist die automatisierte Messbarkeit von Lernleistungen das Ziel oder haben Bildungseinrichtungen einen übergeordneten Auftrag für Allgemeinbildung und Persönlichkeitsentwicklung, der sich nicht utilitaristisch auf Ausbildung und Kompetenzen verkürzen lässt? Bleiben Lehranstalten soziale Orte und Schutzraum für Präsenzunterricht und das Lernen in Sozialgemeinschaften? Wird Lehren und Lernen verstanden als soziale Interaktionen auf Basis von wechselseitiger Beziehung, Bindung und Vertrauen zwischen Menschen? Oder etablieren wir einen zunehmend „autonom“ agierenden Maschinenpark zum Beschulen und Testen der nächsten Generation?

Der Mensch ist des Menschen Lehrer(in)

Zum Denken lernen als Ziel von Lehre und Unterricht brauchen wir ein menschliches Gegenüber, den direkten Dialog. So jedenfalls Immanuel Kant im Text „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (1786). Sonst bekämen wir nur leere Köpfe, die zwar das Repetieren (heute: Bulimie-Lernen) trainieren, aber nicht selbständig denken und Fragen stellen könnten. Für Dialog und Diskurs, für das Nach-, Mit- und Selbstdenken brauchen wir echte Begegnungen. Lernen ist ein individueller und sozialer Prozess, der nicht digital kompensiert werden kann, wenn Verstehen das Ziel ist, nicht nur Repetition. Medien und Medientechnik können Lernprozesse partiell unterstützen, aber wir lernen durch das Miteinander (Lankau 2020a)

In der Flugschrift „Alternative IT-Infrastruktur für Schule und Unterricht“ (Lankau, 2020b) wird bis auf Hard- und Software-Ebene skizziert, wie man Digitaltechnik einsetzt, ohne Nutzerdaten zu generieren. Der Untertitel präzisiert die Funktion von sinnvoller Medientechnik in Lehr- und Lernprozessen: „Wie man digitale Medientechnik zur Emanzipation und Förderung der Autonomie des Menschen einsetzt, statt sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern zu lassen.“ Das heißt: Der Einsatz von Digitaltechnik muss überdacht werden im Hinblick auf die Frage, was der „Normalfall Unterricht“ sein soll. Bleiben Bildungseinrichtung Lernorte für das Individuum oder werden es Lernfabriken für die zunehmend algorithmisierte Steuerung von Menschen mit dem Ziel des messbaren Kompetenzerwerbs, samt absehbarer Konsequenzen für das Individuum wie die Gemeinschaft? Das ist ja eine der Lehren aus Corona: Präsenz ist nicht zu ersetzen, in keiner Schulform und in keinem Lebensalter. Ob wir dabei analoge und/oder digitale Medien als Ergänzung zum Unterricht einsetzen bleibt nachgeordnet. Denn es sollte zu denken geben, was der israelische Historiker Harari zu Covid-19 im Interview formulierte:

„In 50 Jahren werden sich die Menschen gar nicht so sehr an die Epidemie selbst erinnern. Stattdessen werden sie sagen: Dies war der Moment, an dem die digitale Revolution Wirklichkeit wurde. (…) Im schlimmsten Fall werden sich die Menschen in 50 Jahren daran erinnern, dass im Jahr 2020 mithilfe der Digitalisierung die allgegenwärtige Überwachung durch den Staat begann.“(Lüpke, Harms, 2020)

Download als PDF: Was Hänschen nicht lernt … (Teil I)
Link zu: Was Hänschen nicht lernt … (Teil II)
Literaturliste als PDF zum Download: Lankau. was Hänschen nicht lernt (Literatur.pdf)