Veröffentlicht am 12.04.22

Was Hänschen nicht lernt … (Teil II)

Kritische Statements zur Digitalisierung in der Grundschule

Unterricht ohne Medien ist nicht möglich. Nur sollte man nicht auf (digitale) Medientechnik verkürzen, wie es die „Ewig-Morgigen“ (Erich Kästner) propagieren, die jede neue Technik fortschrittsbegeistert und technikgläubig ohne Prüfung in Schulen etablieren wollen. Sonst bekommt man Investitionsruinen wie die Sprachlabore in den 1970er Jahren oder wieder eingesammelte (weil für Spiele gehackte) Laptops wie in den 1990er Jahre in Australien. Für Kitas und Grundschulen ist noch wichtiger, dass die „digitale Welt“ flach bleibt und auf reaktives Verhalten und (Medien)Konsum konditioniert.

Medien im Unterricht

Analoge und digitale Unterrichtsmedien unterscheiden sich nicht grundsätzlich im möglichen Nutzen oder Mehrwert für Lernprozesse. Alle relevanten Studien belegen, dass nicht die technische Codierung von Lerninhalten über den Nutzen von Medien entscheidet, sondern deren sinnvolle Einbindung in den lehrergeführten Präsenzunterricht und als Ergänzung in Selbstlernphasen. Der wesentliche Unterschied zwischen analogen und digitalen Medien ist, dass nur digitale Medien einen sogenannten Rückkanal für Nutzerdaten haben.

Analogen Medien wie Schrift- und Druckmedien (vom Flugblatt bis zum Buch) und auditive bzw. audiovisuelle Medien (von der Schallplatte über Rundfunk bis zu Fernsehen und Film) zeichnen das Nutzerverhalten nicht auf. Bei digitalen Medien und netzbasierten Endgeräten hingegen wird jede Aktion protokolliert: Welche Seiten und Szenen schaut man an, wo blättert man vor oder spult zurück, welche Passagen werden übersprungen etc. Das Mediennutzungsverhalten wird kleinteilig und personalisiert maschinenlesbar, die Nutzerinnen und Nutzer dadurch individualisiert steuer- und kontrollierbar. Wer daher von digitaler Transformation für Schule und Unterricht spricht, fordert mit dem Arbeiten an digitalen Endgeräten und Netzdiensten die Option, Lernprozesse aufzuzeichnen, algorithmisch auszuwerten und das Beschulen und Testen zu automatisieren.

Das kann man fordern. Man sollte es aber auch genau so deutlich formulieren: Digitalisierung als Technik der De-Humanisierung. (Lankau 2019) Shoshana Zuboff spricht vom Zeitalter des Überwachungskapitalismus. (Zuboff 2018) In Bildungsbereichen wird daraus mit den gleichen Techniken eine Überwachungspädagogik, euphemistisch kaschiert als „selbstorganisiertes Lernen“ am Bildschirm, mit „Lernbegleitern“ statt Lehrkräften.

Das Scheitern als Konstante: IT in Schulen (Studien)

Nur: Es funktioniert nicht. Das bestätigen aktuelle Untersuchungen aus der Pandemie-Zeit mit erzwungenem Fern- und Onlineunterricht. Die Studie von Engzell et.al. belegt, dass selbst Schülerinnen und Schüler von technisch sehr gut ausgestatteten niederländischen Schulen, die den Einsatz von Digitaltechnik gewohnt sind, durch Fernunterricht Lerndefizite entwickeln, die der Zeit der Schulschließung entsprechen. Sind es Kinder aus bildungsfernen Familien, evtl. mit Migrationshintergrund, sind die Lernrückstände noch deutlich größer. (Maldonado et.al.) Eine Frankfurter Forschergruppe formulieren griffig (und mit Blick auf eine Presseverwertung): Distanzunterricht ist so effektiv wie Sommerferien (Hammerzell et.al.,2021) Die Studien von Andresen (Jugend und Corona) oder Ravens-Sieberer (CoPsy I – III) zeigen die gravierenden Folgen für sowohl die körperliche wie psychische Entwicklung durch die erzwungene soziale Isolation. Gleiches gilt für Studierende, hier sind es Ängste, psychische Störungen, Studienabbrüche. (DZHW 2021) Altersgruppenübergreiefend ist nur die steigende Bildschirmzeit (DAK/UDK 2022), mit bekannten körperlichen, psychischen und sozialen Folgen..

20 Monate Pandemie haben in der Praxis einmal mehr gezeigt, was wir aus der pädagogischen Forschung „an sich“ wissen: Unterricht ist eine direkte Interaktion zwischen Personen, sie basiert auf direkter Kommunikation, Bindung und Beziehung. Die Schule und das soziale Miteinander im Klassenverband sind ebenso wichtig wie Lehrpersönlichkeit und wechselseitiges Vertrauen. Gerade für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten und/oder mit Migrationshintergrund und Sprachproblemen sind die Folgen von zunehmender Digitalisierung bereits in der Grundschule folgenreich: Die soziale Schere geht auseinander, gesundheitliche wie psychische Folgen sind eine frühe Hypothek für erst beginnende Bildungsbiografien.

Analog und digital: Medien im Unterricht

Das größte Defizit digitaler Medien gerade für Kita- und Grundschulkinder ist jedoch die fehlende physische, d.h. dinglich-sinnliche Materialität. Digitale Endgeräte haben keine sinnlichen Qualitäten. Man tippt und wischt auf Glasflächen (Touchscreens) ohne Widerstand. Es fehlt jede Form von differenzierter Haptik und physischer Qualität, die beim Lernen der elementaren Kulturtechniken – Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch Zeichnen, Malen, Modellieren und im Wortsinn: Handwerken – notwendig ist. Mit einem Bleistift schreibt man anders als mit einem Füllfederhalter oder Kugelschreiber – auf jedem Papier unterschiedlich. Mit einem Pinsel zu malen fühlt sich anders an als Gestalten mit Fingerfarben oder Zeichnen mit Kreide an der Tafel oder auf Asphalt. Bücher haben verschiedene Formate, Einbände, Papierqualitäten, Schriftbilder usw.

Neben Materialqualitäten fehlt digitalen Geräten die räumliche Dimension. Man arbeitet auf immer gleichen Touchscreens statt auf wechselnden Formaten, vom Schreibheft bis zur Wandtafel. Kinder entwickeln beim Tippen statt Schreiben z.B. kein Gespür für die Länge und additive Struktur von zusammengesetzten Worten. Sie entwickeln kein Gefühl für reale Größen, weil sie Texte und Grafiken bei Bedarf skalieren, was bei einer Zeichnung auf Zeichenblock oder Leinwand nicht geht.

Sie verlieren bei Rechenwegen die Übersicht, weil sie dafür scrollen müssten. Dabei ist es gerade beim Verstehen von mathematischer Logik entscheidend, ganze Rechenwege im Blick zu haben. Tippen und Wischen lässt die Feinmotorik der Hand verkümmern, was sich negativ nicht nur auf die Handschrift auswirkt und letztlich zu Unleserlichkeit führt (was jeder kennt, der handschriftliche Klausuren korrigieren muss). Die Hand als Universalwerkzeug verkümmert.

Malen, Musizieren und Werken als sinnliche Erfahrung

Im Kunstunterricht fehlt jegliche Materialerfahrung, wenn nur digital gearbeitet wird. Zwar können immer ausgefeiltere Programme Maltechniken simulieren. Sie nutzen aber nur denen, die das manuelle Zeichnen, Malen und Modellieren gelernt haben und aufgrund realer Materialerfahrungen die Vielzahl an Werkzeugen einzusetzen wissen. Man muss mit realen Farben und Pigment als Regulativ gemalt haben, um digitale Äquivalente beurteilen und Parameter korrekt einstellen zu können. Für „Nur-Digitalisten“ bleiben es unterschiedliche digitale Filter.

Im Musikunterricht wird das differenzierte Hören nicht gelernt, wenn nur digital generierte Töne gehört werden, zumal über Kopfhörer, was die Raumerfahrung von Klang verhindert. Selbst beim Lesen von Büchern hat das physische Objekt Buch mehr und vielfältigere Qualitäten als ein eBook. Nur das Papierbuch hat eine reale Konsistenz, Gewicht und Geruch, einen Einband. Jedes Buch ist verschieden. Am Bildschirm nivelliert sich jeder Text. Auf gedruckten Doppelseiten kann man sich besser orientieren als am Screen, der nur gescrollt oder geblättert wird. Beim Buchblock wird ersichtlich, wie viele Seiten man gelesen, wie viele man noch zu lesen hat. Das kann keine Seitenzahl leisten. Man liest anders.

Das Projekt eRead (https://ereadcost.eu/) veröffentlicht regelmäßig Studien dazu. Das Ergebnis: Lesen am Bildschirm eigne sich für die schnelle Informationsaufnahme, verleite aber zum eher quer und flüchtig Lesen. Für das konzentrierte Lesen, bei dem man etwas behalten und z.B. in der eigenen Arbeit verwenden möchte, ist das Lesen auf Papier nach wie vor besser geeignet. Und: Das konzentrierte Lesen muss man selbst als Vielleserin nach zu viel Bildschirmlektüre erst wieder lernen, so Céline Lauer. (Lauer 2021)

Unterricht vom Menschen her denken

Das sind einige Aspekte, die die Bedeutung physischer (dinglicher) Medien und Materialien gerade für Kita und Unterricht in Grundschulen belegen. Der Mensch selbst ist ein sinnliches Wesen und verkümmert ohne wechselnde Außenreize. Daher ist es so wichtig, das gesamte Spektrum von physischen, analogen und erst im späteren Verlauf von Schule und Ausbildung auch digitalen Medien auf ihre Funktion und den konkreten Nutzen in Lehr-Lernsituationen zu hinterfragen und diese fachspezifisch und altersgerecht einzusetzen.

Je jünger Menschen sind, desto dinglicher und sinnlich-haptisch sollten Materialien und Medien sein. Der wichtigste Grundsatz sollte daher lauten: Kita und Grundschule bleiben in der pädagogischen Arbeit für die Kinder bildschirmfrei. Neben lernpsychologischen Aspekten gibt es auch gesundheitliche Gründe. In China sind Laptops und Tablets in Grundschulen mittlerweile verboten, weil sie bei Grundschulkindern, insbesondere im Alter zwischen sechs und acht Jahren, zu deutlich höherer Kurzsichtigkeit führen (idw 2021). Chinesische Kinder rechnen und schreiben wieder auf Papier. (Kontrolliert werden sie trotzdem. Auf jedem Tisch steht eine Tischlampe mit Kamera, Mikrofon und Lautsprecher. Lehrer können Kinder übers Netz beobachten und via Netz Anweisungen geben.)

Man kann zudem viel mehr ohne Rechner machen als gedacht. Um z.B. informatisches Denken zu lernen, braucht man keine Rechner. Das Projekt „Computer Sciences Unplugged“ (dt. Informatik ohne Computer; https://www.csunplugged.org/de/) zeigt, wie man mit einfachen physischen Objekten und Spielen die Grundprinzipien von Algorithmen, Sortiernetzwerken oder Fehlersuche und Korrektur mit Übungsblättern und Lauf-Spielen vermitteln kann. Ab der Sekundarstufe kann mit „echten“ Rechnern arbeiten (PC und Laptop), wobei das Ziel „echte Informatik“ sein muss und nicht nur die Bedienung von Office-Programmen. (Ob es für das ursprünglich freie Projekt förderlich ist, dass mittlerweile Google und Microsoft CS Unplugged sponsern, steht auf einem anderen Blatt.)

Dialog und Diskurs statt Lernprofile

Wer Lernenden jeglichen Alters eine selbstbestimmte Zukunft ermöglichen und ihnen Bildungschancen eröffnen möchte, sorgt dafür, dass Schulen und Bildungseinrichtungen analoge wie digitale Medien altersgerecht, ausschließlich nach pädagogischen Prämissen und ohne das Sammeln von Nutzerdaten – ohne Rückkanal und Profilierung – einsetzen. Über die Aufgabe und Funktion von – analogen wie digitalen – Medien im Unterricht entscheiden dabei grundsätzlich und durch die in Deutschland grundgesetzlich abgesicherte Methodenfreiheit die studierten, pädagogisch und fachlich qualifizierten Lehrerinnen und Lehrer.

Statt Zwangs- und Frühdigitalisierung, statt Automatisierung und Zentralisierung nach den Parametern der Daten-Ökonomie muss wieder das pädagogische Primat gelten: lehrergeführter Präsenzunterricht (Bossard 2022), inhaltszentriert nach Fachlogik statt nach Kompetenzrastern und -stufen, ohne Lernende vermessen und algorithmisch berechnet steuern zu wollen. Dann können Bildungseinrichtungen wieder ihrem Ursprungsgedanken gerecht werden: Ein Ort der Muße, der Wertevermittlung, Erziehung und Bildung zu sein, in der Menschen zu mündigen Persönlichkeiten werden, die sich eigenverantwortlich in die Gesellschaft einbringen und Teil der (Sozial-)Gemeinschaft werden.

Download als PDF: Was Hänschen nicht lernt … (Teil II)
Link zu Teil I: Was Hänschen nicht lernt … (Teil I)
Literaturliste als PDF zum Download: Lankau. was Hänschen nicht lernt (Literatur.pdf)