Veröffentlicht am 11.05.20

Lehrerbildung NRW

Stellungnahme zum „Landtagsbericht zu Entwicklungsstand und Qualität der Lehrerausbildung 2020“ von Prof. Dr. Jochen Krautz

Sehr geehrter Herr Staatssekretär Richter,

nachfolgend übermittele ich Ihnen die Stellungnahme der Gesellschaft für Bildung und Wissen zum Bericht der Landesregierung an den Landtag zu „Entwicklungsstand und Qualität der Lehrerausbildung“ (§ 1 Abs. 3 LABG) mit freundlicher Bitte um Berücksichtigung.

In der GBW sind eine große Zahl an Lehrenden in Lehramtsstudiengängen verschiedener Universitäten, an Lehrerinnen und Lehrern aller Schulformen, an Lehramtsanwärterinnen und –anwärtern sowie an Studierenden des Lehramtes in NRW Mitglied, so dass die nachfolgende Stellungnahme auf einem entsprechend multiperspektivischen Blick sowie auf umfangreicher wissenschaftlicher Forschung und praktischer Expertise beruht, mittels der die GBW zum öffentlichem Diskurs um schulische Bildung und Bildungswesen beiträgt.

Die von Ihnen zurecht angestrebte Nachjustierung der universitären Lehrerbildung erweisen sich aus unserer Sicht als äußerst bedeutsam und dringlich. Für deren weitere Unterstützung steht die GBW gerne zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Krautz – Präsident –

 

ad ,,Akkreditierung und Steuerung“

Akkreditierungsverfahren haben sich längst als kontraproduktive Überbürokratisierung erwiesen, die die Arbeit aller daran Beteiligten behindert. Sie können gerade für Lehramtsstudiengänge wieder abgeschafft werden, da die ministerielle Fachaufsicht auf direktem Wege sinnvoller gewährleistet werden kann als über die indirekte Kontrolle und Steuerung mittels nur vermeintlich weicher Governance-Verfahren.

Der Sache der Bildung der Studierenden wie deren künftigen Schülerinnen und Schülern angemessener und strukturell einfacher wäre es, statt dessen das Lehramtsstudium wieder zu einem Vollstudium ohne Bachelor und Master zu machen. Die Wiedereinführung des abschließenden Staatsexamens würde zudem die bildungswidrigen und nivellierenden Zwänge der studienbegleitenden Prüfungen ablösen.

 

ad ,,Universitäre Zentren für Lehrerbildung“

Die von den für die Lehrerbildung zuständigen universitären Fächer abgekoppelten „Zentren für Lehrerbildung“ haben an vielen Orten ein Eigenleben jenseits von Wissenschaft und Fachlichkeit entwickelt, das auf die Lehrerbildung massiven Einfluss nimmt, ohne dafür qualifiziert und legitimiert zu sein (vgl. Ladenthin 2019). Dieses Selbstverständnis als Change-Agenturen für pädagogisch nicht begründete normative Ansprüche führt bis hin zu absurden Maßnahmen wie einem „Pferdecoaching“ für angehende Lehrerinnen und Lehrer (vgl. Krautz 2018). Die ZfL tragen damit zur Entfachlichung der Lehrerbildung bei und konterkarieren fachlich, didaktisch und pädagogisch gehaltvolle wissenschaftliche Lehre (vgl. Burchardt 2019). Die Zentren für Lehrerbildung sind demzufolge entweder aufzulösen und die Verantwortung für die Lehrerbildung den Fächern zu übertragen oder sie müssen in ihrer Aufgabe klar auf reine Verwaltungstätigkeit beschränkt und unter die Leitung von gewählten Fachvertretern der Universitäten gestellt werden. Aufgeblähte Strukturen können im Zuge dessen abgebaut und die Stellensituation in Forschung und Lehre entsprechend verbessert werden.

 

ad ,,Bildungswissenschaftliches Studienprogramm“

Die bildungswissenschaftlichen Studienprogramme müssen folgende verbindliche Elemente enthalten, die in Folge der Orientierung der Bildungswissenschaft an nahezu ausschließlich empirisch-quantitativen Verfahren verloren gegangen, für die fachdidaktische und fachpädagogische Lehre in den Fächern aber unverzichtbar sind:

– Geschichte der Pädagogik und des Schulwesens – Systematische Pädagogik
– Bildungstheorie
– Allgemeine Didaktik
– Pädagogische Anthropologie
– Pädagogisch orientierte Entwicklungspsychologie

Diese einst selbstverständlichen Bestandteile eines erziehungswissenschaftlichen Studiums müssen derzeit in den Fachdidaktiken „nebenbei“ gelehrt werden, um den Studierenden zu ermöglichen, den Auftrag der Verfassung realisieren zu können, nämlich sich selbst und ihren künftigen Schülerinnen und Schülern die Bildung von Mündigkeit zu ermöglichen.

 

ad ,,Praxiselemente im Studium und berufsbiografische Orientierung“

Das Praxissemester stellt zwar für manche Studierende eine „berufsbiografische Orientierung“ dar, bildet aber tatsächlich einen Fremdkörper im Masterstudium, der zwischen den Institutionen Universität, Zentrum für schulpraktische Lehrerbildung (ZfSL) und Schule auch mittels der Organisation von zeitraubenden, aber wenig wirkungsvollen Absprachen nicht schlüssig vermittelbar ist. Die Logik der Praxis folgt nicht der Logik der Wissenschaft, und die Wissenschaft kann sich nicht normativem Druck der Praxis beugen, ohne ihr Grundrecht der Freiheit der Lehre zu gefährden.

In der Studienrealität gerät in diesem Vor-Referendariat die universitäre Fokussierung auf die fachliche Bildung aufgrund des Praxisdrucks oft ins Hintertreffen. Dies ist im grundsätzlichen Theorie-Praxis-Verhältnis begründet: Praxis lässt sich nicht theoretisch anleiten, sondern nur praktisch lernen. Dazu bedarf es reflektierter Praktiker, was die eigentliche Aufgabe der ZfsL sein sollte. Die Universität vertritt andere Ansprüche und Ziele und kann auch nicht auf das Bereitstellen von „Reflexionsformaten“ reduziert werden. Sie muss z.B. gängige Praxis auch kritisch in Frage stellen. Das ist aber für Novizen der Praxis eher problematisch, da sie Orientierung suchen. In der Folge zeigt die bisherige Erfahrung, dass der normative Druck der Praxis vieles an Vorbereitung seitens der Universität überlagert oder gar konterkariert. So ist aber weder der Praxis noch der Wissenschaft und am wenigsten den Studierenden geholfen.

Zudem hat die zentrale Verteilung der Studierenden an Schulen des Landes gut funktionierende Kooperationen mit geeigneten Praktikumsschulen vor Ort unmöglich gemacht. Stattdessen kommen die Studierenden an Schulen, an denen gerade in den „kleinen Fächern“ mitunter keine ausgebildeten Fachlehrkräfte zur Verfügung stehen. Dies wird dann wiederum in Akkreditierungen als Qualitätsmangel gerügt, muss aber grundsätzlich gelöst werden.

Insofern ergeben sich zwei Optionen zur Verbesserung der Situation:

– Abschaffung des Praxissemesters; Wiederaufstockung des Referendariats auf zwei Jahre; (Wieder-) Einführung von Semesterpraktika, die in Verantwortung der Fächer in Kooperation mit selbst gewählten Schulen durchgeführt werden; Bereitstellung der entsprechenden Lehrkapazität zur wöchentlichen Begleitung von mittelgroßen Studierendengruppen an die Schulen.

– Beibehaltung des Praxissemesters; Abschaffung der zentralen Vergabe der Praktikumsplätze oder Berücksichtigung von Angaben der Universitäten zu ausbildungstauglichen Schulen; Stärkung der fachlich führenden Rolle der Universitäten durch kapazitäre Aufstockung, die es den Fächern ermöglicht, die Studierenden mindestens einmal im Praxissemester in der Schule zu besuchen.

 

ad „Lehren und Lernen in der digitalisierten Welt“

Nicht erst die Corona-Krise zeigt, dass die „Digitalisierung des Lernens“ in ihrer Bedeutung massiv überschätzt wird. Die Erfahrung dieser erzwungenen Praxis macht deutlich, was pädagogisch-systematisch ohnehin klar ist: Bildendes Lernen braucht den interpersonalen Dialog realer Menschen über eine Sache. Der ist digitaltechnisch nicht ersetzbar. Alle gegenteiligen Behauptungen legen implizit einen reduktionistischen Lernbegriff zugrunde, der letztlich dem in der Verfassung und schulischen Richtlinien festgeschriebenen Bildungsauftrag widerspricht (vgl. Krautz 2020). Insofern sind für die Lehrerbildung nicht „digitale Kompetenzen“ zentral, sondern die Reflexion dieser Problematik. Die Geräteausstattung der Schulen kann zwar unter Beachtung des Datenschutzes vorgenommen werden, wie damit didaktisch in Hinsicht auf fachliche Bildung sinnvoll umzugehen ist, obliegt aber dem Urteil der Lehrerinnen und Lehrer. Diese werden diese Geräte nutzen, wenn sie a) funktionieren, b) aktuell und c) sicher sind, wenn sie d) von eigenen Systemadministratoren gewartet werden und schließlich e) fachlich, didaktisch und pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden können (vgl. Lankau 2017).

Gerade die „Digitalisierung“ braucht also mehr fachliche Urteilskraft, didaktisches Denken und politische Mündigkeit, weshalb diese „Kompetenzen“ zu stärken sind. Ansonsten bleibt „Digitalisierung“ ein An- und Einpassungsprogramm an von interessierten Dritten vorgegebene Datenstrukturen.

 

ad „Fach- und schulformspezifische Weiterentwicklungen, insbesondere für das Lehramt an Berufskollegs, Wirtschaft-Politik an allgemeinbildenden Schulen und das Fach Musik“

Das Lehramt an Berufskollegs ist geprägt durch einen großen Mangel an grundständig Studierenden in den technischen Fachrichtungen. Die Lehramtsausbildung erfordert eine hohe Spezialisierung der technischen Fachinhalte und somit eine Vielzahl beruflicher Fachrichtungen. Fachwissenschaftliche Clusterbildung, wie das Schaffen einer Fachrichtung „Ingenieurswissenschaften“, ist ungeeignet, um die erforderliche fachwissenschaftliche Tiefe zu vermitteln. Gleichzeitig werden die fachwissenschaftlichen Inhalte an den Hochschulen zunehmend zur „Glückssache“. Das Studium fundamentale hat – in begrenztem Umfang -seine Berechtigung, jedoch fehlen verbindliche qualitative und quantitative fachwissenschaftliche Vorgaben des Landes, um eine Vergleichbarkeit herzustellen und die fachwissenschaftliche Lehre umfänglich festzulegen. Zudem werden die fachwissenschaftlichen Inhalte des Studiums nicht mehr in Absprache mit der Industrie und dem Ministerium für Schule und Bildung weiterentwickelt. Es ist dringend geboten hier institutionell nachzusteuern und landesweite Fachgruppen in Form einer empfehlenden Kommission, bestehend aus Vertretern der Industrie, des Landes und der Hochschulen, zu bilden, die gemeinsam fachwissenschaftliche Inhalte festlegen und technische Weiterentwicklungen aufnehmen. Kapazitäre und personelle Engpässe werden noch in den Lehrämtern Sozialwesen/Sozialpädagogik, Gesundheit und Pflege sowie in den kleineren Fächern wie Augenoptik, Hörgeräteakustik festgestellt. Hier bedarf es weiterer Anreize und Vorgaben.

In die Liste von allgemeinbildenden Fächern, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, wäre auch das Fach Kunst aufzunehmen, das ähnlich wie das Fach Musik unter einem politisch induzierten Bedeutungsschwund und unter massivem Mangel an ausgebildeten Kunstlehrerinnen und –lehrern leidet. Allerdings spielen in dieser Marginalisierung auch fachinterne Gründe eine Rolle. Insofern wäre das Fach einerseits in den Volumina der Stundenpläne zu stärken, andererseits bräuchte es vom Land unterstütze, universitär verantwortete Qualifizierungsmaßnahmen für die übergroße Zahl an fachfremd unterrichtenden Lehrkräften und nicht hinreichend qualifizierten Seiteneinsteigern.

 

ad „Entwicklungsstand des Vorbereitungsdienstes und Phasen übergreifende Kompetenzentwicklung“

Im Sinne der Stärkung der eigentlichen Stärken der jeweiligen Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen geht es aus universitärer Sicht gerade nicht um eine weitere Verschleifung der Zuständigkeiten und Aufgaben mittels des illusorischen Konstrukts „übergreifender Kompetenzen“, von dem sich ja auch der gerne als Gewährsmann der Kompetenzorientierung angeführte Franz E. Weinert schon früh verabschiedet hat.

Qualität entsteht im Gegenteil aus der Profilierung der eigenen Aufgaben und Logiken universitärer Bildung und schulpraktischer Ausbildung, die beide für eine fachlich anspruchsvolle und mündige Praxis der künftigen Lehrerinnen und Lehrer notwendig sind.

Doch nicht nur systematisch, sondern auch weil viele an der universitären Lehrerbildung Beteiligten selbst nicht ausgebildete Lehrerinnen oder Lehrer sind, ist die Entwicklung „übergreifender“, also praxisrelevanter „Kompetenzen“ nicht möglich. Es entstehen vielmehr Illusionen von „Kompetenz“ etwa in der Meinung, dass die Kenntnis empirischer bildungswissenschaftlicher Studien sinnvolles schulpraktisches Handeln anleiten könnte.

Sinnvoll wäre daher die Förderung der Orientierung auch des Vorbereitungsdienstes an den Kernaufgaben fachlicher Bildung mittels Unterricht und die Reduktion der ausufernden Querschnittsaufgaben.

Die Stellungnahme als PDF: GBW – Stellungnahme Lehrerbildung NRW 2020