Veröffentlicht am 07.06.16

Gymnasiale Bildung heute und morgen

Ach, das Gymnasium. Am Anfang war es eine Anstalt, in der die Knaben ihre nackten Körper in Form und ihre pädophilen Lehrer in Wallungen brachten. Schon Platon hat sich darüber mächtig empört. Dann war es das Flaggschiff der neuhumanistischen Bildungsidee, an dem sich die Söhne der Ärzte und Staatsbeamten an der Sprache und den Texten der Alten abarbeiteten. Friedrich Nietzsche hatte dafür nur noch Hohn und Spott übrig. Noch später wurde es zur höheren Schule schlechthin, die allen alles bieten sollte. Mehr als eine schnöde Halbbildung, so konstatierte Theodor W. Adorno grimmig, ist dort nicht zu holen. Seit es das Gymnasium gibt, ist es an seinen Ansprüchen gescheitert. Nicht zuletzt deshalb ist es so erfolgreich. Ein klares Profil hat das Gymnasium schon lange nicht mehr. Der klassische Typ mit den Schwerpunkten Mathematik, Alte Sprachen und deutsche Literatur wurde längst ergänzt durch neusprachliche, naturwissenschaftlich-technische und wirtschaftsorientierte Zweige, die zunehmenden Wahlmöglichkeiten der Schüler und der Zwang zur ‘Profilbildung’ der einzelnen Schulen lassen es im Dunkeln, was von einem Abiturienten an Kenntnissen, Fähigkeiten und allgemeiner Bildung noch erwartet werden darf. Wenn, wie mancherorts angedacht, etwa die Geschichtslehrer in Hinkunft individuell die Gebiete auswählen werden, die sie exemplarisch zu behandeln gedenken, wird das historische Bewusstsein endgültig auf ein paar Modethemen zusammenschnurren.

Eulen nach Athen tragen

Anfang des Jahres 2015 sorgte die Twitter- Nachricht einer Gymnasiastin bundesweit für Aufregung, sogar Bundesbildungsministerin Johanna Wanka sah sich zu einer zustimmenden Stellungnahme genötigt. Was hatte die junge Frau unter dem Decknamen Naina geschrieben: »Ich bin fast achtzehn und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ‘ne Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.« Die Debatten über die Sinnhaftigkeit klassischer und humanistischer Bildung angesichts der Notwendigkeiten des Lebens in einer modernen Gesellschaft flackern seitdem immer wieder auf. Dass an Schulen nicht das gelernt wird, was man zum Leben alles so braucht, ist allerdings ein Vorwurf, der pädagogische Einrichtungen seit der Antike begleitet. Nur lernen, was man auch sofort anwenden kann? Nur lernen, was nützt? Nur lernen, was der eigenen Situation und Bedürfnislage entspricht? Ist es das, was wir unter Bildung verstehen wollen? Und liegt das Problem nicht eher darin, dass Bildung ohnehin seit langem eher an den Erfordernissen der Märkte und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als an vermeintlich antiquierten Inhalten und angeblich unbrauchbaren Kenntnissen gemessen wird? Trug Naina mit ihrem Tweet nicht Eulen nach Athen? (Hoffentlich kennt sie diese Wendung und ihre Geschichte noch).

Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt nämlich ohnehin fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einst assoziiert waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich elaboriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der moralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins. Im gegenwärtigen Diskurs fungiert ‘Bildung’ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Volksschulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von ‘Bildung’, fordert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete ‘maßgeschneiderte’ Qualifizierung von Menschen, also ihre ‘Ausbildung’ und die Schulung diverser ‘Kompetenzen’.

Kompetenzorientiert unterwiesene Kinder werden um die Chance gebracht, ein substantielles Interesse an der Welt entwickeln zu können

Die Neuorientierungen in der Pädagogik und die damit verbundenen Dauerreformen tragen zudem nicht gerade zu einem klaren Bild bei: Kompetenzen statt Wissen, individuelle Schwerpunkte statt kanonische Texte, soft skills statt Sekundärtugenden, Bildungsstandards statt Stoff, innovatives Lernen statt Wiederholen, Kreativität statt Üben, Integration statt Selektion. Die Erwartungshaltungen sind hoch, aber niemand weiß mehr, was man sich von dieser Schule erwarten darf. Den Mut und die Kraft, verbindlich in die Grundlagen einer Kultur und ihre herausragenden Werke einzuführen, hat das Gymnasium wohl schon längst verloren.

Blickt man genauer hin, muss man erkennen, dass sich unter dem Deckmantel der Kompetenzorientierung eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt hat. In dem Maße, in dem Kompetenzen als formale Fertigkeiten verstanden werden, die an beliebigen Inhalten erworben werden können, konterkariert man die Idee jedes durch Neugier motivierten Erkenntnis- und damit Bildungsprozesses. Noch nie hat sich ein Mensch in einem wirklichen Bildungsprozess etwa für eine bestimmte philosophische Lebensauffassung interessiert, bloß um daran seine eigene Argumentationskompetenz zu üben, sondern es läuft immer umgekehrt: Ein bestimmter Inhalt fasziniert, lässt nicht mehr los und erhält dadurch eine Verbindlichkeit, auf die der verstehenwollende Mensch gleichsam genötigt ist, durch die Ausbildung bestimmter Kompetenzen zu antworten, um dem Anspruch der Sache gerecht werden zu können.

Genau um diese Faszination, die von einer Sache, einem Thema, einem Gegenstand, einem Namen, einem Buchtitel, einer Frage ausgehen kann, werden kompetenzorientiert unterwiesene Kinder und Jugendliche gebracht; sie werden damit um die Chance gebracht, überhaupt ein substantielles Interesse an der Welt und an sich selbst entwickeln zu können. Gerade die vielgerühmte ‘Selbstkompetenz’ erweist sich als ungeheuerliches Betrugsmanöver, an dessen Ende die Phraseologie des Selbst jede Form der Selbsterkenntnis sabotiert.

 

in: PROFIL, Magazin des Deutschen Philologenverbands, Ausgabe 05/2016

Der vollständige Beitrag als PDF: PROFIL_Liessmann_Gymnasiale_Bildung