Veröffentlicht am 07.02.23

Zur Verschärfung des Lehrkräftemangels – Fragen an das Positionspapier der SWK

Ein Kommentar von Dr. Burkard Chwalek.

Der aktuelle wie auch auf Sicht der nächsten 20 Jahre prognostizierte erschreckend hohe, wenn auch vorhersehbare und daher in dieser Schärfe durch umsichtige Planung vermeidbare, Lehrkräftemangel ist eine individuelle wie gesamtgesellschaftliche Katastrophe: individuell, weil Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene um Lebenschancen und Zukunftsperspektiven gebracht werden; gesamtgesellschaftlich, weil auf der einen Seite der Wirtschafts- und Technologiestandort auf qualitativ hochwertig ausgebildeten Nachwuchs angewiesen ist, auf der anderen Seite, weil eine allzu große Ungleichverteilung der Bildungschancen zum Problem für Demokratie und den Zusammenhalt einer Gesellschaft werden kann.

Es ist deshalb gut, wenn sich Expertinnen und Experten des bedeutsamen Themas annehmen und in einem Papier Lösungsvorschläge präsentieren. Weniger oder gar nicht gut ist es, wenn die vorgelegten Ergebnisse der Analyse am Ende so flach sind, dass sie gar keiner Expertise bedurft hätten.

Es gibt zu wenige Lehrkräfte für – im Verhältnis – zu viele Schülerinnen und Schüler. Beruhigend, so könnte man meinen, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) für bildungspolitische Herausforderungen dieser Art eine Kommission eingerichtet hat: die Ständige wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK). Sie setzt sich i. W. zusammen aus aktuell 15 Professorinnen und Professoren aus dem Umfeld der (empirischen) Bildungsforschung.

Wie also lauten die Vorschläge dieses Gremiums? Die Antworten finden sich in den „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“1. Kurz: Erhöhung und Verdichtung der Arbeitszeit. Etwas genauer: Heraufsetzen der Messzahlen der Lerngruppen, Verpflichtung der Teilzeitkräfte zur Aufstockung der Unterrichtsverpflichtung, Streichung der Altersentlastung, Erhöhung des Deputats durch Vorgriffsstunden, gleichzeitige Betreuung mehrerer Lerngruppen (euphemistisch als Hybridunterricht tituliert) – um nur einiges zu nennen. Wenn es nur darauf ankäme, das Problem zu überspielen, könnte man sich damit abspeisen lassen. Allerdings hätte es für Vorschläger solcher Art keiner Expertenkommission aus 15 Professorinnen und Professoren bedurft, dazu hätten einige Anfragen durch die KMK an die Schulverwaltungen genügt.

Bekanntlich sind Positionspapiere im Ergebnis selten so dürftig, dass sie nicht die ein oder andere bedenkenswerte Überlegung enthielten. Zutreffend ist in der Tat ein Teil der Analyse der Ursachen der Problemlage, die erst den Maßnahmenkatalog zu ihrer Behebung oder wenigstens Abfederung evoziert. Korrekt diagnostiziert als verschärfender Faktor des Lehrkräftemangels ist, „dass viele Lehrkräfte angesichts der Folgen beruflicher Belastung und Beanspruchung ihre Arbeitszeit reduzieren bzw. vorzeitig in Pension gehen […], wobei der Lehrkräftemangel selbst wiederum einen erheblichen Belastungsfaktor darstellt.“(25) Verwiesen wird im Folgenden auf „Ermüdung, Stress oder Ausgebranntsein“ (25). Wenig hilfreich, im Gegenteil geradezu hilflos wirkt in diesem Zusammenhang der Hinweis „darauf, dass gut ein Fünftel [!] der Lehrkräfte eine hohe Distanzierungsfähigkeit, niedrige Resignationstendenz und insgesamt hohe Lebenszufriedenheit […] aufweist […]“. (25) Für knapp 80% gilt das also offensichtlich nicht und dies aus Gründen, für die auch die Empirische Bildungsforschung indirekt verantwortlich ist, nämlich die von ihr wesentlich mit geschaffene Nötigung, in möglichst allen Bereichen des schulischen Alltags Kennziffern zu produzieren, an denen die Empirische Bildungsforschung wie auch Teile der Bildungspolitik und der Schulaufsicht die Qualität von Schule und Unterricht meinen messen zu können. Die dadurch verursachte Mehrarbeit stellt einen wesentlichen Belastungsfaktor für Lehrkräfte dar und dürfte mit verantwortlich für die in der Tat problematisch hohe Teilzeitquote in diesem Beruf sein.

Eine genauere Ergründung der Ursachen, die mit zu der sinkenden Attraktivität des Berufs und damit zur Perpetuierung des Lehrkräftemangels beitragen dürften, hätte also der sich empirisch nennenden Bildungsforschung gut zu Gesicht gestanden, ist aber in den Empfehlungen nicht zu finden.

Stattdessen wird die Problematik auf die individuelle Ebene verlagert und in die Verantwortung der einzelnen Lehrkraft gegeben. Den Belastungen lasse sich begegnen durch Achtsamkeitstraining, das Wahrnehmen von eMental-Health-Angeboten im Internet (über die dabei anfallenden Daten dürften sich v. a. Versicherungsgesellschaften freuen), Coaching- und Supervision, Trainings zur Gesprächsführung, Krisenhotline, Mentoring und dgl. Sieht man davon ab, dass gerade der Zeitmangel zur Erledigung der oft – insbesondere in Zeiten mit hoher Arbeits- und Terminverdichtung – überbordenden Pflichten und Aufgaben im Lehrberuf eine wesentliche Belastungsgröße darstellt und Vorschläge, die noch mehr Zeit für den Beruf abfordern, kontraproduktiv sind, so wärmen die Empfehlungen wenig einfallsreich Strategien auf, die seit inzwischen Jahrzehnten ebenso regelmäßig propagiert werden wie sie ohne Erfolg bleiben. Sie basieren auf dem neoliberalen Ideal der lebenslang Lernenden und, unausgesetzt auf die eigene Effizienzsteigerung ausgerichtet, sich selbst Optimierenden.

Der unheilvolle Ansatz versperrt den Weg zur Behebung der Problemlage, nämlich die Gesamtsituation in all ihren Aspekten und bestimmenden Faktoren zu analysieren und daraus Lösungen zu erarbeiten. Er verkennt v. a., dass Schulen keine Produktionsstätten sind, deren Qualität durch Steuerung und Optimierung beliebig produzierbar und steigerungsfähig ist. In Schulen agieren Menschen und gerade die jüngsten unter ihnen bedürfen nicht ständig neuer Strategien, Konzepte und Trainings, sondern vorrangig teilnehmender Fürsorge mit Blick auf alle schulischen Dimensionen.

Daraus leiten sich zwei Empfehlungen ab, zum einen an die KMK und zum anderen an die SWK. Die KMK sollte Expertinnen und Experten aus der reflektierten Praxis in das Gremium berufen wie Lehrkräfte, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Schulsozialarbeiterinnen und–arbeiter, Schülerinnen- und Schülervertreter, Schulleiterinnen und Schulleiter. Die SWK sollte in kritische Distanz gehen zu den Bedingtheiten des eigenen Vorgehens und dieses auf seine gedankliche Provenienz hin befragen, um so den Analysehorizont weiten und einen Blick für tragfähige Lösungen gewinnen zu können.

1       https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/KMK/SWK/2023/SWK-2023-Stellungnahme_Lehrkraeftemangel.pdf

(Abruf: 03.02.2023)