Veröffentlicht am 31.07.13

Wird das Gymnasium zu Grabe getragen?

Das Gymnasium nimmt in Deutschland (wie im ganzen mitteleuropäischen Raum) seit der Humboldtschen Bildungsrevolution eine Schlüsselrolle im Bildungswesen ein: Das Abitur – der älteste Bildungsstandard an unseren Schulen – stattete jenen Teil der Schülerschaft mit der „allgemeinen Hochschulreife“ aus, der sich den Anforderungen einer anspruchsvollen Allgemeinbildung, einer erweiterten Fremdsprachlichkeit und einer wissenschaftspropädeutischen Fachlichkeit stellte und diese durch Anstrengung und Begabung auch bewältigte.

Bis zum Ende des Kaiserreichs kam die überwiegend männliche Schülerschaft weitgehend aus den oberen Rängen der Gesellschaft, weshalb das Gymnasium zu Recht als Reproduktionsmaschine dieser Gesellschaftsstruktur angesehen wurde. Seit der Weimarer Republik öffnete es sich aber auch  begabten Kindern aus der unteren Mittelschicht und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg konnten durch Lernmittel- und Schulgeldfreiheit nach und nach auch leistungsstarke Kinder aus Flüchtlings-, Vertriebenen- und Arbeiterfamilien und zunehmend Mädchen den Weg der „höheren Bildung“ beschreiten. Letztere überflügelten anteilsmäßig sogar die Jungen, weil sie – entwicklungsmäßig reifer – diesen im Denk- und Arbeitsverhalten überlegen waren. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt verstärkte die Demokratisierung des Gymnasiums, indem sie auch die materiellen Voraussetzungen der höheren Bildung für die ärmeren Volksschichten verbesserte (BAFöG) und mehr Geld in die Bildung investierte als jede Regierung vor ihr. Während die Benachteiligung der Frauen in Gesellschaft und Wirtschaft bis heute anhält und nur sehr langsam überwunden wird, hat sich das Gymnasium in dieser Hinsicht als ein äußerst durchlässiges System der Nicht-Diskriminierung erwiesen, in welchem Leistungsbereitschaft und Leistungsvermögen sich frei entfalten können. Dass es dennoch statistisch den Anschein einer sozialen Auslese erzeugt, kann daher nicht auf eine diskriminierende Selektion zurückgeführt werden, sondern ist in den unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen für Bildung begründet sowie einer unzulänglichen Förderung während der frühen Kindheit und der schulischen Primarstufe. Prekäre Lebensbedingungen, labile Familienverhältnisse, Leben in kulturellen Parallelwelten werfen viele Kinder in ihrer Entwicklung von vornherein und oft uneinholbar zurück, woran keine Bildungspolitik der Welt etwas ändern kann, es sei denn, man nähme die Kinder den Familien weg und verstaatlichte ihre Bildung und Erziehung völlig. Diese schlechten Startchancen auszugleichen bleibt daher die Aufgabe einer Sozial-, Beschäftigungs- und Einkommenspolitik, welche hierin in den letzten Jahrzehnten besonders versagte.

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