Veröffentlicht am 28.04.20

Was uns PISA beschert hat

Eine Replik von Marc Mattiesson auf den Beitrag von Tobias Peter „Fortschritt fehlt“ in der Frankfurter Rundschau vom 19. Oktober 2019, zuerst veröffentlicht als gekürzter Leserbrief in der FR am 07. November 2019.

Obwohl der unwissenschaftliche Ursprung der PISA-„Studie“ mittlerweile von zahlreichen Autoren herausgearbeitet und betont wurde und bei kritischen Beobachtern des Bildungssystems sogar seit vielen Jahren zum geistigen Allgemeingut gehört, werden „Schock“ und Empörung über die desaströsen Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich alle Jahre wieder aufs Neue beschworen. Wen wundert es, würden die kontinuierlichen Schreie nach Reform und Wandel des deutschen Bildungssystems bei sehr gutem Abschneiden der Schülerinnen und Schüler doch jeglicher Grundlage beraubt. Wer sägt schon an dem Ast, auf dem er selber sitzt? Dementsprechend versuchte auch die Frankfurter Rundschau nach der Veröffentlichung des letzten IQB-Bildungstrends im Oktober 2019 der vermehrt ins Leere laufenden Reform-Hysterie neues Leben einzuhauchen und beklagte in dem Leitartikel „Fortschritt fehlt“ den fehlenden Reformeifer der letzten Jahre. Wie sehr eine solche Darstellung gerade am Alltag von Lehrerinnen und Lehrern vorbei geht und die eigentlichen Ursachen für Mängel im deutschen Bildungswesen außenvorlässt, arbeitet Marc Mattiesson in einer umfassenden Replik heraus, in der er sich nicht nur von den Autoren der Frankfurter Rundschau eine differenziertere und kritischere Berichterstattung wünscht, sondern auch daran erinnert, was uns PISA wirklich beschert hat.

„Setzen, sechs“ wäre eine doch recht überzogene Form der Reaktion auf zahlreiche Kommentare bzw. Leitartikel, Gastbeiträge etc. der letzten Jahre in der Frankfurter Rundschau zum Thema Bildung. Aber als langjähriger kritischer Leser und in diesem Falle auch langjährig unterrichtender Lehrer wünschte ich mir gerade von einer Tageszeitung, die sich immer noch einem gewissen kritischen Geist in der Begleitung politisch/gesellschaftlicher Prozesse verschrieben hat, deutlich mehr Differenzierung, Durchdringung und kritische Distanz auch und gerade in bildungsrelevanten Sachfragen. So auch wieder zuletzt im Rahmen der Kommentierung des aktuellen IQB-Bildungstrends durch ihren Autor Tobias Peter.

Dabei werden wieder einmal Instrumente der „Qualitätssicherung“ im Bildungswesen völlig unkritisch als angemessen akzeptiert, dies gilt insbesondere für die Verklärung der PISA-Studie aus dem Jahre 2001. Einmal abgesehen vom durchaus zu hinterfragenden Background dieser Studie aus den Reihen einer Wirtschaftsorganisation, nämlich der OECD, und der damit fehlenden Legitimation in bildungspolitischen Sachfragen, bleiben bei dieser Erhebung die klar zu monierenden methodischen Mängel zu konstatieren. Der Autor akzeptiert die Studie jedoch distanzlos als Diagnoseinstrument, um zu verdeutlichen, „welche Schwierigkeiten Deutschland hat“.

Dabei müsste aus meiner Sicht die eigentliche Kernfrage lauten: Welche Schwierigkeiten hat Deutschland eigentlich inzwischen „dank“ PISA?!

Der Schock, den diese Studie seinerzeit über die vermeintlichen Defizite der deutschen Bildungslandschaft ausgelöst hat, hat aus meiner Sicht in der Folge einen beispiellosen Reformirrsinn begründet, der inzwischen das Kernproblem der Bildungsdefizite in unseren Schulen und Universitäten bildet. Wie viele dieser Maßnahmen wurden inzwischen bereits zurückgenommen (z.B. G8) oder werden zumindest in ihrer Wirksamkeit massiv in Frage gestellt (z.B. Englisch in der Grundschule). Und was wurde dabei grob fahrlässig und völlig überhastet einer besseren Platzierung innerhalb eines fragwürdigen Bildungsrankings geopfert!

Auch oder gerade aufgrund einer zunehmenden Privatisierung des Bildungssektor sind Abschlüsse in Deutschland – trotz, oder gerade wegen PISA – hochgradig vom Elternhaus abhängig, zumindest auf Letzteres verweist der Autor zurecht. Die sogenannte „Bildungsexpansion“ hat zu einer Inflation von höheren Bildungsabschlüssen und damit zu einem Ansturm auf die deutschen Universitäten geführt, was formal zwar die Statistiken aufhellt, eigentlich aber eine gleichzeitige Entwertung unter Absenkung notwendiger Bildungsstandards z.B. mittels der Einführung sogenannter Kompetenzlehrpläne bedeutet. Schulen, Universitäten und Unternehmen beklagen inzwischen im Verbund deutliche Bildungsmängel, irrwitzige volkswirtschaftliche Ressourcen werden bewegt, um Schülerinnen und Schüler für nichtuniversitäre Laufbahnen zu gewinnen. Das alles hat uns PISA beschert.

Das System Schule ächzt unter einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die diese als Korrektiv sämtlicher Probleme betrachtet und das ist nicht allein nur eine Frage der Ausstattung, sondern vielmehr eine Frage von Abwälzung und Überforderung. Peter spricht in seinem Leitartikel von „dicken Brettern“, die auch von Seiten der Schulen gebohrt werden müssen, doch wo bleibt hier zumindest der Verweis auf eine klar verfehlte Sozial- und Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte? Gerade diese Überforderung hat doch erst die Fokussierung auf das eigentliche Kerngeschäft des Unterrichtens aus dem Blick geraten lassen, welches der Autor hier so dringlich anmahnt. Auch die von ihm geforderte Ausrichtung auf eine „individuelle Förderung“ sollte auf gar keinen Fall weiterhin einer puren Verwertungslogik eines inzwischen durchökonomisierten Bildungssystems folgen, sondern vielmehr die Schülerinnen und Schüler in ihrer wirklichen Individualität in den Blick nehmen, ohne dabei aber das Kollektiv und den Wert der Solidarität aus dem Blick zu verlieren.

Es bleibt zu hoffen, dass Peter diese Anstöße meint, wenn er eine „erlahmte Reformdynamik der letzten Jahre“ moniert. Denn wir brauchen eine Bildungspolitik mit Augenmaß und Weitsicht, losgelöst von ideologischen oder interessengeleiteten Motiven.

Insofern brauchen wir auch Kommentare und Leitartikel gerade in der Frankfurter Rundschau, die auf die beschriebenen Hintergründe und Zusammenhänge verweisen, anstatt vordergründig eine neue „Kultur der Kritik“ an Schulen einzufordern oder die Bildungshoheit der Länder zu debattieren. Eine schlechte Bildungspolitik bleibt schließlich eine schlechte Bildungspolitik, egal ob auf Länder- oder Bundesebene.

Liebe Autoren der FR, habt Mut, selber dicke Bretter in Fragen der Debatte über Bildungspolitik zu bohren.