Veröffentlicht am 12.05.17

Überfällige Standpauke mit Blick nach vorn

Wer den Buchtitel „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ liest, mag das für eine Anleitung halten. Wer den Autor kennt – Josef Kraus, Gymnasiallehrer und bis zur Pensionierung 2017 sowohl Schulleiter wie wortmächtiger und erfreulich streitbarer Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) –  dürfte ahnen: Hier kämpft ein Praktiker für den Erhalt (genauer: die Renaissance) eines Bildungssystems, das diesen Namen verdient.

Bildungseinrichtungen als Geschäftsfeld

Kinder und Jugendliche gehen auf die Schulen, die sie vorfinden. Sie versuchen – im Vertrauen auf die Wahl ihrer Eltern und die Institution Schule – die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. Sie wollen lernen. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn Josef Kraus in seinem aktuellen Buch über die systematische Zerstörung der Bildungseinrichtungen durch (un)verantwortliche Akteure der Bildungspolitik und Wirtschaft berichtet. Kraus versteht sich dabei als Anwalt der Jugend und steht, mit Biographie wie Lebenswerk, authentisch für eine humane wie humanistische Bildung.

Denn es gibt widerstreitende Interessen, von zu fordernder Bildungsgerechtigkeit über (nicht zu Ende gedachte) Bildungsgleichheit (Einheitsschulen, Abitur für alle) bis zur Verkürzung von Bildung auf „Bildungsmärkte als Teil des Portfolios“ von Wirtschaftsunternehmen. Die Behauptung etwa, dank Digitalisierung ließe sich „Bildung auch online in hoher Qualität“ ausliefern (Bertelsmann), ist zwar absurd, passt aber zu globalen Standardisierungstendenzen durch die Global Education Industries (GEI) und deren Online-Angeboten. Es korrespondiert mit dem Aufbau einer Testindustrie im Schlepptau empirischer Bildungsforschung (oder umgekehrt?) und deren Statistik- und Kennzahlfixierung. Zusammen mit der weltweiten Privatisierung, Kommerzialisierung und Digitalisierung von Schulen zerstört das Bildungs- als Sozialeinrichtungen.

Wer andern eine Grube gräbt …

Auch soziale Strömungen und politische Moden führen zu Fehlentwicklungen. Kraus nennt fünf selbstgemachte Fallgruben des deutschen Bildungssystems:

  • die Egalitätsfalle der Gleichmacherei von Menschen, Strukturen, Werten und Inhalten – als gäbe es keine unterschiedlichen Begabungen oder als wäre ein ausdifferenziertes Schulsystem ursächlich für die Unterschiede in Lern- und Erwerbsbiographien;
  • Hybrisfalle, also der Glaube an die Machbarkeit von Menschen und die behavioristische Konditionierbarkeit bzw. Steuerbarkeit der Menschen als formal Gleiche;
  • die Spaß-, Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik, die sich gegen Anstrengung und Leistung verwahrt und Kinder mit coolem Edutainement bei Laune halten will statt Leistungsbereitschaft als intrinsische Motivation  zu fördern (Kinder wollen etwas können und leisten);
  • die Quotenfalle, bei der nur auf die absolute Zahl der Abiturienten pro Jahrgang geschaut wird statt inhaltlich zwischen Ländern, Schulabschlüssen oder sogar einzelnen Schulen und Bildungswegen zu differenzieren;
  • die Beschleunigungsfalle mit früher Einschulung, kurzer Schulzeit (G8), verkürzten Studiengängen und der Illusion, mit „immer weniger Schuljahren und mit immer weniger Unterrichtsstunden zu besser gebildeten jungen Leuten und zu einer gigantisch gesteigerten Abiturienten- und Akademikerquote [zu] kommen.“ (12).

In diesen Fallgruben „drohen  Individualität, Leistung, Anstrengungsbereitschaft, natürliche Reifung und Qualität zu versinken.“ (12) Neben den Fallgruben benennt Kraus vier weitere Verirrungen.

  • die Selbstvergessenheit der Deutschen, die von der Selbstverleugnung und Überangepasstheit bis zum Verlust der Selbstachtung reiche;
  • der Hang zur Gesinnungsethik, der Gleichheit, Gerechtigkeit und Kuscheligkeit zu pädagogischen Glaubens- und Gesinnungsbekenntnissen mache;
  • einem Paradox aus gleichmacherischer Gesinnungsethik auf der einen Seite und radikaler Ökonomisierung und Verdinglichung des Menschen zum Humankapital (die Humankapitaltheorie von Gary Becker u.a, Chicago School of Economics) auf der anderen;
  • der Initialisierung durch Psychologisierung, was nebenbei die Psychologie banalisiert. (17)

Mit diesen Ausgangsthesen als Rüstzeug liefert Kraus in den folgenden vier Kapiteln eine so scharfe wie erschreckende Bestandsaufnahme der durch ständige Reformen und permanente Fehlentscheidungen bis an den Rand der Karikatur inhaltsentleerten Einrichtung Schule.

… fällt selbst hinein: Quartett des organisierten Unsinns

Einstiegspunkt der Kritik ist die Wohlfühl-Pädagogik, die Leistung und Anstrengung verweigert. Die ganze Pädagogik kenne nur noch die Erleichterung, das fördere aber keineswegs die Entwicklung, sondern verleite zur Oberflächlichkeit. (25) Frontalunterrichts zu diskreditieren, neue Methoden einführen, gleichzeitig Lehrkräfte als Edutainer und Animateur zu entwerten, sei der falsche Weg, das werde durch zahlreiche Studien belegt (28). Schule braucht Lehrkräfte, die vortragen und erklären können. Das hat zuletzt sogar die PISA-Studie 2015 bestätigt. Auch der Verzicht auf Zensuren und Zeugnissen sei so kontraproduktiv wie der Verzicht auf Sitzenbleiben oder Hausaufgaben. Aber es gebe genug Propheten, die zwar weder Lehrer sind noch unterrichten, aber im Kapitel „Personifizierte Schnapsideen“ (42-48) mit ihren Ideen referiert werden, weil sie doch alles besser wissen und besser können als studierte und praxiserfahrene Pädagogen.

So faktenreich wie ernüchternd ist auch das Kapitel über deutsche Stiftungen, mit dem Gütersloher Platzhirsch an der Spitze. Wer die Beispiele liest, ahnt, welche Think Tanks Bildungspolitik machen und wo Akteure für Führungsaufgaben in öffentlichen Bildungseinrichtungen aufgebaut werden. Während die Bertelsmann-Stiftung Studien in Auftrag gibt, die die Defizite des deutschen Bildungssystems belegen sollen, bietet das Unternehmen Bertelsmann Lösungen für die zuvor definierten Defizite und hat, so ein Zufall, bei Bedarf passende Fachkräfte. (51 – 80). Um Blüms Rentenspruch zu adaptieren. „Die Rendite ist sicher.“

Dass Kraus die Kompetenzorientierung als „Freibrief für Niveauabsenkung“ und den Verlust von Bildung dank OECD und empirischer Bildungsforschung als „reduziert auf das Messbare“ anklagt, ist so verständlich wie nachvollziehbar. Falsche Strukturen führen zuverlässig zu falschen Ergebnissen.

Und die Digitalisierung? Selbst der OECD-Berichts »Students, Computers and Learning: Making the Connection« (2015) belegt, dass Investitionen in Digitaltechnik weder Vorteile noch Nutzen im Lesen, Mathematik und in den Wissenschaften an Schulen bringen (OECD, 146). Gleichwohl steht die Digitalisierung der Schulen weiterhin auf der Agenda der Stiftungen bzw. der zugehörigen Wirtschaftsunternehmen (und damit auf der Agenda der Kultus- wie Bildungsministerien). Gleiches gilt für die Forderung nach Ganztagsschulen. Die Vereinigung der bayrischen Wirtschaft (VBW) betreibt unter dem Label „Aktionsrat Bildung“ offen ihre Lobbyarbeit pro Ganztagsschule, damit Mütter als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. (145) Oder: Die Inklusion wird zu Lasten aller Kinder instrumentalisiert. Da weder genügend ausgebildete Sonderpädagogen zur Verfügung stehen noch der Betreuungsschlüssel entsprechend angepasst wird, werden weder die förderungsbedürftigen noch die nichtbehinderten Kinder angemessen gefördert und beschult. (156f.)

Dass Kinder in der Schule heute nicht einmal mehr orthographisch richtig Schreiben lernen, sondern „nach Gehör“ (233f.), also falsch  schreiben sollen, um mit „Einfacher Sprache“ (193) und irgendwelchen Varianten von Denglisch (176) oder BSE (Bad and Simple Englisch, 182) am korrekten Spracherwerb und dem Lernen der elementaren Kulturtechniken Lesen und Schreiben gehindert zu werden, passt ins Bild. Dabei weiß man: Wer in der Rechtschreibung unsicher ist, wird kaum je flüssig lesen lernen. So werden Kinder schon in der Schule durch unsachgemäße Methoden zu Analphabeten. Aber da nach den vielen unsinnigen Recht-Schlecht-Schreibreformen (199) ohnehin niemand mehr weiß, wie man richtig schreibt und neuerdings die Rechner ja sprechen können…

Mit auf den Weg gegeben

Kraus wäre nicht Pädagoge, würde er nicht konkrete Ratschläge mit auf den Weg geben. Sein erster Rat: „Misstrauen Sie der Schulpolitik. Inszenieren Sie notfalls eine Revolution“ (238); ein bedenkenswerter Satz eines altgedienten Pädagogen. Oder: Glauben Sie nicht an überfrachtete Stoffpläne, seien Sie stattdessen Vorbild in puncto Neugier und Mediennutzung. Lesen Sie Ihren Kindern und Enkeln vor, dann bekommen diese zumindest eine Vorstellung davon, dass es außer Wisch- und Tippkompetenzen auch noch eine Lesekultur gibt. Lesen (können) ist schließlich nach wie vor die Basis jeder Bildung.

Oder: Leistung und Anstrengung sind nicht nur im Sport notwendig, sondern auch beim Lernen. Was für das Spielen von Instrumenten gilt, gilt gleichermaßen für Fremdsprachen, Mathematik und andere Fächer. Üben hilft und gibt Sicherheit. Eigene Erfolge, auch mal mühsam erkämpft, stärken Persönlichkeit und Selbstbewusstsein mehr als jedes Wegräumen von Hindernissen oder unangemessenes Lob. Enttäuschungen und Niederlagen bereiten ehrlicher auf das „echte Leben“ vor als eine überbehütete Kindheit. Selbst elterliche Autorität (Kinder brauchen Schlaf, keine Bildschirme) oder die Zumutung von Langeweile als eine Basis für Lernprozesse und Kreativität sind notwendige Bausteine auf dem Weg zur Selbständigkeit.

Summa summarum: Die in diesem Buch aus erster Hand beschriebene, systematische Zerstörung der deutschen Bildungslandschaft ist eine aufgrund der referierten Fakten nicht immer erfreuliche, dafür notwendige Lektüre für Eltern wie Lehrkräfte. Nur wer die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und damit den Kontext kennt, kann den permanenten Reformdruck einschätzen. Er soll das Nachdenken und Gegensteuern verhindern. Denn Digitalisierung, Kompetenzorientierung oder die systematische Lehrverweigerung der heutigen „Lernbegleiter“ beim „selbstorganisierten Lernen“ (samt automatisierten Prüfungen am Computer) erweisen sich als Teilaspekte, um Schule zur Produktionsstätte von Humankapital mit validierten Kompetenzen zu machen. Unterhaltsam geschrieben ist das Buch eine unverkennbar ernste Aufforderung, der nachfolgenden Generation stattdessen Bildungschancen durch die Besinnung auf die ursprüngliche Aufgabe von Schule zu sichern: solides Fachwissen und fachübergreifender Bildung zu vermitteln. Schule muss, notfalls per Revolte, wieder sozialer Lernort und eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden werden.

Der Beitrag als PDF: J. Kraus Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt