Veröffentlicht am 09.05.20

Schulen im Corona Stress –  Lernen aus der Krise

Kommentar von Hans Peter Klein zur ZDF ZOOM Sendung vom 07.05.2020 Schulen im Corona Stress –  Lernen aus der Krise (Film von Valerie Henschel; ZDF Mediathek)

Text in der ZDF Mediathek: Das sogenannte Homeschooling spaltet die Gemüter. Während die einen zufrieden sind und beim Lernen daheim regelrecht aufblühen, fühlen sich andere überfordert und alleingelassen. Viele machen sich Sorgen um ihre schulische Zukunft. Viele Mängel des deutschen Schulwesens treten im Corona-Stresstest noch deutlicher als sonst zutage: Bildungsungerechtigkeit, schlechte digitale und hygienische Ausstattung, veraltete Lehrpläne und -methoden: An diesen Missständen krankt das deutsche Bildungssystem nicht erst seit Corona.

Lehrer warnen, dass die Kluft zwischen Schülern aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen in der gegenwärtigen Krise noch größer wird. Sie berichten, dass teilweise ganze Klassen während der Schulschließungen abtauchen. „Es gibt Schulen, da läuft es ganz hervorragend, und es gibt Schulen, da läuft leider gar nichts. Das ist aus unserer Sicht eine sehr ungünstige Situation“, kritisiert Stephan Wassmuth, Vorsitzender des Bundeselternrates. Der Bundeselternrat fordert Verlässlichkeit und einheitlichere Regeln für alle Schulen und Bundesländer. Wie es anders gehen kann, zeigt eine Schule in Marburg. Die Richtsberg-Gesamtschule suchte bereits vor Corona nach Möglichkeiten, das Lernen in der Schule so umzugestalten, dass es für alle Kinder funktioniert, ganz gleich, ob sie von ihren Eltern unterstützt werden.

Die Wände der fünften Klassen wurden eingerissen, die Klassenstruktur aufgelöst. In neuen Lernräumen sollen die Kinder ab Klasse 5 möglichst eigenständig arbeiten. Jedes Kind besitzt ein eigenes iPad. Lehrer heißen hier Lernbegleiter und kümmern sich individuell um die Kinder. Frontalunterricht wie früher gab es hier schon vor Corona nicht mehr. Davon profitieren nun Lehrer und Schüler. Es gelingt, fast alle Kinder der Stufe zu erreichen, obwohl die Schule in einem sozialen Brennpunkt liegt. Die Eltern von Bawan, vor vier Jahren aus Syrien geflüchtet, sind sehr zufrieden. „Wir sprechen nicht gut Deutsch und können Bawan kaum helfen. Aber wir sind stolz, dass er so gut zurechtkommt.“

Unter erschwerten Bedingungen spricht „ZDFzoom“-Reporterin Valerie Henschel mit Schülern, Lehrern und Eltern in der ganzen Republik. Wie gut oder schlecht kommen sie klar? Woran liegt es? Und vor allem – was können Schulen aus der Krise lernen?

Kommentar von Hans Peter Klein

Hier weiß anscheinend jemand apriori zu 100%, was guter Unterricht ist und wie der auszusehen hat: digital für alle, Lernlandschaften, Offener Unterricht, Individualisierung, Lernbegleitung, keine Fächer (“ wir unterrichten Menschen und keine Fächer”), Projektunterricht, selbst organisiertes, selbstgesteuertes, problemlösendes Lernen uvm. Schaut man sich die Sendung an, mag man es kaum glauben.

1. In den Interviews kommen nur die Befürworter der Konzepte der ausgerufenen digitalen “Neuen Lernkultur” zu Worte, Kritiker bleiben außen vor. Stattdessen wird der Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt, dass diese sowohl in der Wissenschaft, bei Lehrern, Schülern und auch Eltern auf eine überwältigende Zustimmung stoße.

2. Hinweise auf valide und reliable Studien zum Beweis für die vorgetragenen Behauptungen fehlen völlig.

3. Stattdessen wird mit den Interviewpartnern, wie den Kollegen Ludger Wößmann und Klaus Zierer anscheinend die Wissenschaftlichkeit dieser digitalen “Neuen Lernkultur” untermauert.

4. Die gezeigte Brennpunktschule ist eine der wenigen, die diese umstrittenen Konzepte verfolgt. Stattdessen wird diese als Modellschule für alle Schulen in Deutschland präsentiert.

5. Der dort ausgesprochene Erfolg der digitalen “Neuen Lernkultur“ wird durch nichts belegt.

6. Die an weitere Interviewpartner, wie die Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz, Frau Dr. Hubig, gestellten Fragen sind so prätentiös gestellt, als seien außer Frau Henschel alle mehr oder weniger deppert, die es immer noch nicht kapiert hätten, die Schulen und den Unterricht auf diese digitale Neue Lernkultur umzustellen.

7. Dabei gibt es bis heute, Stand 08.05.2020, keine einzige valide und reliable empirische nationale oder internationale Studie, die die Vorteile einer derartigen digitalen “Neuen Lernkultur“ signifikant nachweist.

8. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die “Neue Lernkultur“ selbst auf keinerlei validen und reliablen empirischen nationalen oder internationalen Studien basiert. Sie stammt vor allem von den bekannten Schweizern Bildungsunternehmern Müller und Fratton und wurde in einige deutsche Bundesländer (Baden-Württemberg, Hamburg Bremen u.a.) unreflektiert übernommen, weil einige der selbst ernannten “Reformpädagogen” in Deutschland sich deren zweifelhaften Methoden angeschlossen haben.

9. Es gibt dagegen sehr wohl schon mehr als 10 Jahre zurück liegende Metaanalysen, die das Gegenteil der vorgetragenen Behauptungen empirisch valide und reliabel belegen. Nur zwei Metaanalysen seien erwähnt:

  • Die bekannte von John Hattie (2008): Visible Learning. Der Lehrer in seiner Funktion als fascilitator mit d = 0,17 konnte ganz im Gegensatz zu seiner Rolle als activator mit d = 0,60 keinerlei Verbesserung der Lernergebnisse erzielen (Hinweis: unter d = 0,2 ist keinerlei positive Wirkung festzustellen, siehe dazu auch die bekannte Grafik von John Hattie in der Anlage). Hattie betont darüber hinaus auch die zugrunde liegenden Fehlinterpretation des diesen Konzepten zugrunde liegenden Konstruktivismus:  constructivism is a form of knowing, not a form of teaching! (Hattie S. 243 ff)
  • Die Studie von Kirschner, Sweller und Clark im EDUCATIONAL PSYCHOLOGIST, 41(2), 75–86, Copyright © 2006, Lawrence Erlbaum Associates, Inc., der schon vom Titel her eigentlich nichts mehr hinzuzuführen ist (im Folgenden mit abstract kursiv angeführt):

Why Minimal Guidance During Instruction Does Not Work: An Analysis of the Failure of Constructivist, Discovery, Problem-Based, Experiential, and Inquiry-Based Teaching

Paul A. Kirschner, Educational Technology Expertise Center, Open University of the Netherlands, Research Centre Learning in Interaction, Utrecht University,  The Netherlands; John Sweller, School of Education, University of New South Wales; Richard E. Clark, Rossier School of Education, University of Southern  California.

Summary. Evidence for the superiority of guided instruction is explained in the context of our knowledge of human cognitive architecture, expert–novice differences, and cognitive load. Although unguided or minimally guided instructional approaches are very popular and intuitively appealing, the point is made that these approaches ignore both the structures that constitute human cognitive architecture and evidence from empirical studies over the past half-century that consistently indicate that minimally guided instruction is less effective and less efficient than instructional approaches that place a strong emphasis on guidance of the student learning process. The advantage of guidance begins to recede only when learners have sufficiently high prior knowledge to provide “internal” guidance. Recent developments in instructional research and instructional designmodels that support guidance during instruction are briefly described.


Zusammenfassung. Beweise für die Überlegenheit des geführten Unterrichts werden im Zusammenhang mit unserem Wissen über die menschliche kognitive Architektur, die Unterschiede zwischen Experten und Schülern und die kognitive Belastung erläutert. Obwohl ungelenkter oder minimal geführter Unterricht sehr beliebt und intuitiv ansprechend ist, wird darauf hingewiesen, dass diese Ansätze sowohl die Strukturen ignorieren, die die menschliche kognitive Architektur ausmachen, als auch Beweise aus empirischen Studien des letzten halben Jahrhunderts, die durchweg darauf hinweisen, dass minimal geführter Unterricht weniger effektiv und weniger effizient ist als Unterrichtsansätze, die einen starken Schwerpunkt auf die Führung des Lernprozesses der Schüler legen. Der Vorteil der Anleitung beginnt erst dann zu schwinden, wenn die Lernenden über ein ausreichend hohes Vorwissen verfügen, um „interne“ Anleitung zu geben. Jüngste Entwicklungen in der Unterrichtsforschung und in Modellen für die Unterrichtsgestaltung, die die Beratung während des Unterrichts unterstützen, werden kurz beschrieben. (Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator)

10. Der seit fünf Jahren gerade im Silicon-Valley  komplett umgekehrte Trend, nämlich der, dass gerade die Eltern, die in der Digitalisierung bis in die höchsten Positionen arbeiten, ihre Kinder mittlerweile in Waldorfschulen anmelden, deren Digitalabstinenz allgemein bekannt ist, interessiert leider der von den Lobbyisten der Digitalindustrie gesteuerten Medien und und leider auch der Politik in Deutschland anscheinend niemand mehr.

Literatur zum Thema: Hans Peter Klein: Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen – Das deutsche Bildungswesen im Kompetenztaumel. ZuKlampen 2016 (S. 158-258)