Veröffentlicht am 12.03.21

Schule als „Nebenwelt“ und die Würde des Kindes

Die Schule als Lebenswelt ist nicht verpflichtet, jeden Unsinn mitzumachen. Sie muss nicht für den Datenfluss in den Social Media sorgen, oder die Haltungs- und Augenschäden durch ständiges Handy-Sticking unterstützen. Auch das der Konzentrationsfähigkeit abträgliche Suchten („suchten“: … der Sucht nachgehen) von YouTube-Filmen, Serien und Tweets und Chats und Apps muss in der Lebenswelt der Schule nicht kultiviert werden – etwa unter dem Bring Your Own Device-Motto. Wenn für letzteres, wie man es häufig hört, mit dem Argument geworben wird, man wolle in der Schule keine Nebenwelt schaffen, damit die Kinder besser auf die „digitale Zukunft“ vorbereitet werden, dann stimmt da was nicht.

Eine „Nebenwelt“ entsteht nicht durch das Weglassen von Geräten. Sie ist zunächst nur ein Wort. Sprechen wir von einer Nebenwelt, bedeutet das, es gibt eine eigentliche Welt, von der sich etwas zur Position „neben“ – hier im Sinne von: nicht vollwertig – abspalten ließe. Die u. a. im Argument des BYOD latent unterstellte „eigentliche Welt“ sollte darüber hinaus zur Kritik an dieser Perspektive genauer betrachtet werden.

Zur „eigentlichen Welt“

Mal abgesehen vom später zu erörternden eher philosophischen Problem der Reichweite eines solchen Begriffes ist die „eigentliche Welt“ offenbar – so der O-Ton dem Wandel angepasster Lehrpersonen – kein Ponyhof, kein Wunschkonzert und schon gar nicht die Sendung „Wünsch dir was“. Auch das Format: „So isses!“ kann diese eigentliche Welt wegen seiner simplen Ontologie offensichtlich kaum repräsentieren. Was bleibt, ist eine „gedachte Welt“, die jemand für eine solche „eigentliche Welt“ hält – oder besser: zu halten vermag. Kennzeichen dieser Welt scheint im „digitalen Zeitalter“ ein Netz zu sein, welches sich über sie ausbreitet und dessen Verfügbarkeit man eine solche Relevanz zuerkennt, dass eine Welt ohne dieses Netz als abgetrennt und hermetisch empfunden wird, kurz: als nicht zur eigentlichen Welt gehörend. Es ist nicht vermessen abzuleiten, dass die hinter dieser schlichten Differenzierung gesetzte Hauptinformation in folgender Aussage deutlich wird: Ohne das Internet wird die Schule zum Ponyhof! Kann Schule dieser Verniedlichung nur dann entgehen, wenn sie sich in dieses Netz begibt und sich mit den Kindern darin aufhält? Das würde das Wunschkonzert der Ökonomie erfüllen, nicht das der Kinder. Das „Wünsch dir was“ ergäbe sich vor der Auswertung der Datensätze, die Kinder und Lehrpersonen im Netz hinterlassen. Wer der Schule vorwirft, ein Ponyhof zu sein, wenn sie sich wehrt, solche lukrativen Daten ins Netz zu emittieren, der glaubt selbst, die Welt sei ein Wunschkonzert. Das ist weit entfernt von der Realität, in der Lehrerinnen und Lehrer für ihre Schülerinnen und Schüler sorgen und sie vor neoliberaler Ökonomie und anderen Übergriffen schützen. Wir wissen: Das Internet ist nicht nur für Kinder gefährlich.

Zur Schule als „Lebenswelt“

Aus einer Zeit vor dem „digitalen Zeitalter“ stammt das noch immer gültige Anliegen, Schule als Lebens- und Beziehungswelt zu begreifen. Damit ist gemeint, sie so zu gestalten, dass die Kinder mit allen ihren Bedürfnissen Beachtung finden. Sie sollten Räume und Schulgelände mitgestalten können, Sitzecken einrichten, in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, Kontakte mit Institutionen, Firmen, anderen Schulen, Familien und Persönlichkeiten auch außerhalb der eigenen Schule pflegen. Vor allem ging es und geht es noch immer um das Gefühl, zu Hause zu sein, dass durch Engagement und positive Beziehungen Anerkennung und Vertrauen aufgebaut werden können. Dies ist auch heute noch die Grundlage für die Bewältigung von Krisen und für den Aufbau von künftiger Resilienz. Die Schaffung dieser Lebenswelt bedeutete keinesfalls den kritiklosen Import aller Errungenschaften der Technik. Darum müssen wir auch heute zum Schutz der Kinder eine Auswahl allein nach pädagogischen und psychologischen Kriterien treffen.

Zur abgetrennten „Nebenwelt“

Hermetisch kann und darf Schule nicht sein. Das wäre Unsinn. Sie muss sich jedoch wehren gegen Übergriffe aus Bereichen der Gesellschaft, die den Schutzstatus der Kindheit nicht anerkennen, die Kinder stattdessen als profitablen „Rohstoff“ betrachten. Vor denen muss Schule auf der Hut sein. Bildlich gesprochen: Schwimmen sollen die Kinder unbedingt lernen, für Schüler und Schülerinnen empfehlen wir das Training im Nichtschwimmerbecken! An natürlichen Gewässern und im Internet sollten sie sich nur in sicheren Bereichen aufhalten, wo ihre Würde nicht gefährdet ist durch Mobbing, sexuelle Belästigung, Abzocke, Erpressung, die/das Suchten, Pornografie und die Reduktion auf eine begehrte Ressource.

Zur naiven Ontologie der „eigentlichen Welt“

Auf die simple Auffassung vom Sein hinter dem Begriff einer „eigentlichen Welt“ wurde oben bereits hingedeutet. Spricht jemand von der eigentlichen Welt und behauptet, diese sei real, sie stimme gar mit der Realität überein, kann man wohl mindestens drei auf unterschiedliche Absichten zielende Reflexionslevels unterscheiden. Der erste weiß nichts von der transzendentalen Welt, der zweite möchte nichts (mehr?) davon wissen und der dritte nutzt das Nichtwissen des ersten Levels und die Ignoranz des zweiten, um Nutzen daraus zu ziehen. Dabei gibt er vor zu glauben, die wahrgenommene Welt stimme mit der Realität überein, weil eine einfache Ontologie Menschen in einen exploitierbaren Rahmen binden kann. Schließlich müssen sie ja arbeiten und hierfür benötigen sie ihren praktischen Boden unter den Füßen und den entsprechend pragmatischen Verstand, der Zweifel an der Eigentlichkeit der Welt in die angenommene Notwendigkeit zurückführt und sie entschärft: „So ist die Welt!“ Die vom Autor vertretene erkenntnistheoretische Auffassung geht von der deutlichen Inkongruenz von Realität und Wirklichkeit aus und davon, dass „Welt“ gerne manipulativ als „Realität“ ausgegeben wird. Den Unterschied zu erkennen, ist eine Voraussetzung für die geistige Emanzipation des Menschen, die Nutzung desVerstandes.

Betrachten wir die „Nebenwelt“ der Schule unter diesen Aspekten, dann löst sich deren Disqualifizierung neben der „eigentlichen Welt“ auf, weil beide Welten, sobald wir über sie sprechen, gedachte Welten in unseren Köpfen sind, wie auch die Trennung der beiden eine gedachte Trennung ist und keinesfalls Realität. Die Absicht, die „vernetzte“ Welt als Realität – als „eigentliche Welt“ – gegen eine die Kinder schützende Schule als Scheinwelt zu positionieren, wird klar: Schule sei erst „vernetzt“ der Realität zugehörig. Das allein klingt schon anmaßend und ignorant und trägt die Handschrift des Change-Managements neoliberaler Ambitionen auf dem dritten oben genannten Level.

So bleibt der emanzipatorische Hinweis wichtig, dass Realität immer schon komplexer ist als sie auf den ersten Blick erscheint und darum auch die Forderung, unsere Kinder in der Schule aus dem Internet herauszuhalten. Alle Lehrerinnen und Lehrer im staatlichen Schuldienst sind durch ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag an die Pflicht gebunden, die Würde des Kindes zu achten und zu schützen. Darum sollte „Digitale Zukunft“ mit Kindern in Schulen außerhalb des Internet kritisch geübt werden und nicht innerhalb des Netzes unter billigender Inkaufnahme der Gefährdungen. Ein nach pädagogischen Prinzipien gestaltetes Intranet in der Schule – und dies als vollwertiger Teil der „eigentlichen Welt“ – kann ein digitales Spielfeld sein, auf dem die Würde des Kindes gewahrt bleibt.