Veröffentlicht am 02.05.20

Schöne neue digitale Schulwelt

Erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger vom 7.4.2020, Seite 10, unter „Mein Standpunkt“. Ein Beitrag von Georg Haiduk.

 

In Zeiten, in denen im Bildungssystem arbeitende Menschen durch soziale Isolation kaum umhinkommen können, die bunten digitalen „Gimmicks“ finanzstarker Technologieunternehmen vorschnell als Entlastung und Gewinn im Quarantänealltag zu feiern, gerät schnell aus dem Blick, in welchem gesellschafts-politischen Kontext sich diese Entwicklung vollzieht. Welche zahlreichen problematischen Umsteuerungen im Bildungssystem die Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen flankieren, daran erinnerte Georg Haiduk am 07.04.2020 in einer Stellungnahme im Kölner Stadt-Anzeiger.

Die Auswirkungen der in seiner Aussagekraft fragwürdigen PISA-Studie haben unser Schulsystem in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Statt um den klassischen Bildungsauftrag dreht sich heute alles um sogenannte „Kompetenzen“, wobei dieser Begriff diffus definiert wird. Begriffe wie Output-Orientierung, Evaluation, Prozessoptimierung, Qualitätsmanagement, Potentialanalyse fanden den Weg in den Schulalltag. Damit wurden Begriffe aus dem Bereich der Ökonomie auf die Schule übertragen. Oberstes Ziel ist die „Optimierung“ aller Prozesse, was deren Messbarkeit voraussetzt, denn nur so kann man sie „optimieren“. Zugleich wird zunehmend standardisiert, die pädagogische Freiheit wird immer weiter reduziert. Der Druck auf die Schule hat von allen Seiten zugenommen. Auch Schulen selbst werden „vermessen“, in Form von „Qualitätsanalysen“ mit fragwürdigen „Messinstrumenten“. Zahllose Daten werden immer und überall erhoben. Die Digitalisierung passt perfekt zu dieser Entwicklung, weil sie die technische Grundlage bietet, auf der sich diese Agenda perfekt umsetzen lässt.

Dabei ist die Schule kein Wirtschaftsunternehmen, die gesamte Begrifflichkeit ist fehl am Platze. Die Vorstellung, Bildung (im klassischen Sinne) sei in ihrer ganzen Komplexität quantifizierbar und messbar, ist reine Fiktion. Die Schule ist im Zuge der besagten Reformen wohl kaum besser geworden – außer in dem Sinne, dass sie jetzt besser messbar ist.

Wenn nun von allen möglichen Seiten immer wieder das Hohelied der Digitalisierung gesungen wird und allen Ernstes der Eindruck erweckt wird, als sei das Hauptproblem an deutschen Schulen der Mangel an Digitalisierung, so kommt das letzten Endes nur den Interessen der IT-Branche entgegen, die sich schon auf Milliardengeschäfte freuen darf. Dabei belegen viele Studien, dass der pädagogische Nutzen von intensivem IT-Einsatz an Schulen eher gering ist, ganz im Gegensatz zu den gewaltigen finanziellen Kosten, die dies verursacht, von sonstigen Problemen (hoher logistischer Aufwand, Datensicherheit u.v.a.) einmal ganz zu schweigen.

Natürlich kann der Einsatz digitaler Technik im Unterricht von Nutzen sein, das ist keine Frage. Doch es geht bei der Digitalisierung an Schulen in Wirklichkeit um viel mehr, nämlich um die Veränderung der gesamten Lernkultur. In Zeiten einer zunehmenden Atomisierung der Gesellschaft müsste gerade die Schule ein Zeichen gegen Vereinzelung und übersteigerte „Individualisierung“ und stattdessen für mehr menschliches Miteinander und gemeinschaftlichen Austausch und Diskurs setzen. Die Milliarden für digitale Technik sollte man lieber in Menschen investieren: Mehr Lehrpersonal, Sozialarbeiter, kleinere Klassen. Stattdessen werden die Schülerinnen und Schüler, lässt man den Digitalisten freie Bahn, an isolierten Arbeitsplätzen ihre zum Teil von Lernalgorithmen erstellten „passgenau individualisierten“ Lernpläne abarbeiten, alles lässt sich wunderbar vermessen und mit „Kompetenzstufen“ quantifizieren, der Unterricht wird automatisiert, der Schüler wird zum Lernroboter, der Lehrer wird zum „Lernbegleiter“ degradiert. Aber die Schule muss ja „fit werden“ für das 21. Jahrhundert, so das digitale Mantra. Schöne neue Welt?