Veröffentlicht am 01.12.13

Schöne neue Bildungszukunft?

Kommentar zum Beitrag von Klieme/Leunert zur empirischen Bildungsforschung in der FAZ vom 8. November 2013

Manche kompetenzorientierten Vertreter der empirischen Bildungsforschung schrecken vor keiner Spekulation zurück, um den Nutzen ihrer kostspieligen Forschung für den Unterrichtsalltag zu suggerieren. Eckhard Klieme und Detlev Leutner erzählen in ihrem Beitrag in der FAZ vom 8. November zunächst die schöne Geschichte von der Lehrerin, die in ihrem Unterricht über „Schwimmen“ angewandte Kompetenzmessung betreiben würde. Kinder experimentieren, die Lehrerin wertet im KLassengespräch Vermutungen und Beobachtungen aus und analysiert dann auch noch die Einträge der Kinder in einem „Forscherbuch.“ Und das alles könne sie, weil sie Erkenntnisse der empirischen Bildungsforschung verwirklichen würde.

Mit Verlaub: Gute Lehrerinnen und Lehrer arbeiten seit Jahrzehnten so. Gestützt auf ihre Erfahrungen mit Lernschwierigkeiten, Verstehensprozessen, hilfreichen Unterstützungen interpretieren sie schriftliche und mündliche Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler und ziehen daraus Schlussfolgerungen für ihren Unterricht: Welche Hilfe muss gegeben werden? Wer braucht nur einen kleinen Denkanstoß? Bei wem müssen Grundlagen gesichert werden? Geht es nach den beiden Protagonisten der Kompetenzforschung, dann werden Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft das Denken und Handeln ihrer Schülerinnen und Schüler vor dem Hintergrund von Kompetenzmodellen interpretieren. Wie
praktikabel ist das?

Bleiben wir beim Beispiel des Sachunterrichts. Dieses Fach hat ein sehr große inhaltliche Bandbreite. Themenbereiche wie Schwimmen und Sinken gehören ebenso dazu wie Wettererscheinungen, Lebensraum Wald und Wiese, Aufgaben der Gemeinde, Verbraucherverhalten, elektrischer Stromkreis, Wasserkreislauf und vieles  mehr. In der schönen neuen Bildungszukunft werden Lehrerinnen und Lehrer also virtuos mit zahlreichen Kompetenzmodellen jonglieren müssen, um den Lernstand und die Entwicklungsmöglichkeiten von Schülerinnen und Schülern endlich treffsicher zu erfassen. Die Autoren räumen, an dieser Stelle wissenschaftlich seriös, zwar ein, Kompetenzmodelle seien komplex, segmentierten den Lerngegenstand und müssen aufgrund neuer, natürlich auf komplizierte Weise gewonnener Erkenntnisse hin und wieder auch mal korrigiert werden. Aber für den Unterricht ist der jeweils aktuelle Stand der Forschung offenbar gut genug, um pädagogisches Wahrnehmen, Beurteilen und Handeln der Lehrerinnen und Lehrern in Kompetenzraster zu zwingen, die dann ja auch mit Informationen über das konkrete Lernverhalten aller Schülerinnen und Schüler gefüllt werden müssen. So erstickt pädagogisches Handeln im informationellen Overkill.

Kritiker der zunehmenden Vermessung des Bildungssystems werden mit dem Vorwurf abgekanzelt, mit Allgemeinplätzen zu argumentieren. Über die Gefahr, dass mit dem Kompetenzhype Bildung auf das  reduziert wird, was gemessen werden kann und dass Illusionen über die Technisierbarkeit von Bildungserfolg genährt werden, verlieren die Autoren kein Wort. Die teure Kompetenzforschung immunisiert sich gegen Kritik, indem sie Kritikern Kompetenz abspricht. Das erinnert an die Art und Weise, wie in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Kritiker der atomaren Energieversorgung als unverständige Laien abgekanzelt wurden. Die Folgen dieses eindimensionalen Denkens dürfen wir heute alle bezahlen.