Veröffentlicht am 29.05.20

Offensive Digitale Schultransformation – 7 Handlungsempfehlungen – kritische Anmerkungen zum Positionspapier der Gesellschaft für Informatik (GI)

Ein Kommentar von Dr. Burkard Chwalek

Inmitten der Corona-Krise und in den durch die Pandemie verursachten Fernunterricht hinein legt die Gesellschaft für Informatik (GI) ein von zahlreichen Organisationen unterzeichnetes Positionspapier zur sog. digitalen Bildung vor. Zentrales Anliegen ist, die digitale Schultransformation mit Nachdruck voranzutreiben. Der folgende Kommentar prüft die Stichhaltigkeit der Argumentation des Papiers und weist dessen zirkuläre Struktur auf.

Ausgehend von einer Beschreibung der gegenwärtigen Situation des „Homeschoolings“ werden sieben Handlungsempfehlungen formuliert, die leitend sein sollen für die Transformation der Schulen hin zu weitgehend digital geprägten Lernumgebungen. Während der Zeit der Schulschließungen konnte Unterricht – wenngleich in eingeschränkter Form – auch mit Hilfe digitaler Instrumente weitergeführt werden. Insofern ist es erwartungsgemäß, dass sich zahlreiche Stimmen zu Wort melden, die sich einerseits in ihrem Bild der jetzt angeblich so unverhüllt zutage tretenden Rückständigkeit des deutschen Schulsystems bestärkt sehen wie auch anderseits die behaupteten Potenziale einer forcierten Digitalisierung der Schulen für die Durchsetzung längst erhobener Forderungen zu nutzen suchen. In diesem Kontext ist das Positionspapier der GI zu sehen. Zu prüfen ist, ob es eine begründete oder wenigstens plausible Diskussionsgrundlage darstellt. Diese Prüfung erfolgt anhand folgender Fragen: Ist die Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Situation korrekt und belegbar? Sind die daraus gewonnen Ableitungen stringent und lassen sie sich argumentativ absichern?

Bestandsaufnahme

Dem Papier zufolge wurde das deutsche Bildungssystem durch die Schulschließungen auf den Prüfstand gestellt. Wie es in der Vorbermerkung heißt, habe sich dabei gezeigt, dass es „mithilfe digitaler Werkzeuge“ gelingen konnte, „den Bildungsauftrag der Schulen zu erfüllen.“ (Vorbemerkung) Erfolgreicher seien dabei diejenigen Schulen gewesen, die den Weg der Digitalisierung schon zuvor beschritten hätten. Lehrkräfte und Schüler*innen hätten im Selbststudium einen „Crash-Kurs in Sachen digitaler Bildung“ (Vorbemerkung) absolviert. So sei es einigen Vorreiterschulen gelungen, „einen wichtigen Anteil des Unterrichts durch Fernunterricht … zu gewährleisten.“ (Vorbemerkung). Es ist unschwer zu erkennen, dass man es hier nicht mit einer sachgerechten Analyse zu tun hat, sondern mit Setzungen, die den verfolgten Intentionen dienen (sollen). Nicht das deutsche Bildungssystem ist durch die Schulschließungen auf den Prüfstand gestellt worden, sichtbar werden konnte allenfalls, wie und mit welchen konkreten Maßnahmen Schulen sich auf die Ausnahmesituation einer Pandemie einstellten. Es wurde auch nicht der Bildungsauftrag erfüllt, sondern einige seiner Aspekte. Hierzu zählen etwa die Vermittlung des Lehrplanstoffes mittels Arbeitsblättern, Lehrfilmen, Erklärvideos u. ä. Dabei ist es bemerkenswert, wie ehemals als traditionell und rückwärtsge
wandt inkriminierte Vermittlungsformen als innovativ gefeiert werden, weil sie technisch aufbereitet daherkommen: Erklärvideos stellen i. d. R. eine Form des deduktiven Frontalunterrichts dar. Was darüber hinaus den Bildungsauftrag der Schulen konstituiert, kann jede noch so ausgebaute digitale Infrastruktur gar nicht leisten oder nur rudimentär dazu beitragen. Zum Bildungsauftrag der Schulen gehört, wie es in vergleichbarer Weise in den Schulgesetzen der Länder formuliert ist, die Persönlichkeit junger Menschen in umfassender Weise zur Geltung zu bringen durch Ausbildung und Erweiterung ihrer Fähig- und Fertigkeiten, sie zur Verantwortungsübernahme zu befähigen in einem demokratischen Rechtsstaat und gegenüber Umwelt und Natur – um nur einiges zu nennen. Deshalb bleibt Unterricht im Kern ein personales Geschehen, angewiesen auf das präsente Miteinander von Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften. Dementsprechend ist es auch nicht ersichtlich, dass einige bereits stärker digitalisierte Schulen erfolgreicher bei der Erfüllung des Bildungsauftrages gewesen seien, jedenfalls dann nicht, wenn der Bildungsauftrag im beschriebenen umfassenden Sinn gemeint ist. Es müssten wenigstens die Kriterien offen gelegt werden, an denen der behauptete Erfolg gemessen wird. Einfacher dürfte häufig lediglich die Übermittlung von Arbeitsaufträgen und Material gewesen sein, was nicht in Abrede gestellt wird. Unübersehbar wird dennoch gerade hier die basale Schwäche des Papiers. Es wird nicht unterschieden, in welcher Hinsicht auf einen Sachverhalt eine Aussage getroffen wird. Damit wird sie als Argument hinfällig. Auch haben Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte keinen Crash-Kurs in „digitaler Bildung“ absolviert. Sieht man vom unsauberen Attributgebrauch ab, da es „digitale Bildung“ gar nicht geben kann, dürfte sich der Erwerb von „Bildung“ bezügliche digitaler Werkzeuge doch im Wesentlichen auf die Anwendungsebene reduzieren: E-Mail-Verwaltung, Lernplattformen bedienen, Filme schauen, sich in Videokonferenzen einwählen. Hier geht es um nicht mehr als simple Bedienungsfähigkeiten. Zusammenfassend: Die von der GI gegebene Situationsbeschreibung hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die rhetorische Strategie beruht vorrangig darauf, die entscheidenden Begriffe nicht zu explizieren (das deutsche Schulsystem, der Bildungsauftrag, die Digitalsierung, digtiale Bildung, erfolgreich) und die genauen Bezugnahmen der Aussagen im Dunkeln zu lassen. Ein derart gravierender logischer Lapsus kann nicht von der Sache her motiviert sein. Die Aussagen taugen nicht als Argumente, sondern erweisen sich als Instrument einer Strategie. Sie sind rhetorisch.

Handlungsempfehlungen

Vor dem Hintergrund der diagnosizierten Rückständigkeit des deutschen Schulwesens zielen die konkreten Handlungsempfehlungen zunächst darauf, den Schulen im postulierten digitalen Wandel mehr Mittel und Ressourcen zur Verfügung zu stellen: eine umfangreiche digitale Infrastruktur mit WLAN an allen Schulen, digitale Endgeräte für Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte, Entlastung der Lehrkräfte von administrativen Tätigkeiten im ITBereich durch professionelle Systembetreuung (IT-Fachpersonal), eine Ausweitung des Informatikunterrichts und der Medienpädagogik, Einsatz digitaler Technologien in allen Fächern, langfristige Finanzierungsstrukturen.
Richtig an den Forderungen ist, dass die bisherige Strategie, die sogenannte digitale Transformation – auch finanziell v. a. wegen des weitgehenden Fehlens von Dienstrechnern – in beträchtlichem Umfang den Fachlehrkräften aufzubürden, ein falscher Weg war. Fehlgreifend sind sie indes, weil sie in unzulässiger Weise die Verhältnisse einer zudem inkorrekt erfassten und rekonstruierten Ausnahmesituation zum Kriterium wesentlicher Aufgaben von Schule schlechthin machen. Sie gehen aber auch deshalb in die Irre, weil ihnen – zwar als Empfehlungen getarnt – durchweg der Charakter des Zwangsläufigen attestiert wird. Der gesamte Text ist durchzogen von Ausdrücken, die Notwendigkeit implizieren oder unmittelbar ausdrücken: muss, müssen, es gilt jetzt, zukünftig gilt es, kann nur, dringend notwendig, zwingend, zwingende (sic!) Notwendigkeit und dgl. Verfolgt man von diesem Punkt aus den Weg der (Pseudo)Argumentation einmal zurück, ergibt sich folgendes Bild: Der digitalen Transformation der Schulen wird Notwendigkeit zugeschrieben, zur Gestaltung des zwangsläufig sich vollziehenden Wandels bedarf es konkreter Handlungsempfehlungen, die sich ihrerseits konsequent aus den diagnostizierten Defiziten herleiten. Insofern sind die Handlungsempfehlungen nicht der Sache geschuldet, sondern strategisches Bindeglied zur Vermittlung von Defizienz und Notwendigkeit innerhalb einer zirkulären Argumentation: Aus der suggerierten Notwendigkeit der digitalen Transformation wird der Befund eines defizienten Bildungssystems hergeleitet, das seinerseits als Beleg für die Notwendigkeit der digitalen Umsteuerung fungiert. Um das in Bezug auf die allgemeine Vorgehensweise demonstrierte Muster an einer in der Vorbemerkung vorgebrachten konkreten Forderung zu verdeutlichen: Die digitale Transformation der Schulen sei dringend notwendig, sie bedürfe einer Digitalsierungsoffensive, in der Lernstrukturen und -prozesse neu gedacht werden müssten. Die Ausnahmesituation wird vereinnahmt, um Interessen durchsetzen zu können, die auch unabhängig davon verfolgt werden, nämlich Lernprozesse an Digitalisierung auszurichten. In der Sache begründet sind sie nicht. Zwei Bemerkungen zum Schluss: Es erübrigt sich fast der Hinweis darauf, dass an keiner Stelle deutlich wird, worin der mit einer weiteren Digitalisierung der Schulen in Aussicht gestellte pädagogische Mehrwert konkret besteht. Zur Redlichkeit hätte es gehört zu benennen, wie die gigantischen Kosten einer Umsetzung der Forderungen zu stemmen sind und zu wessen Lasten. Denn die dann notwendigen finanziellen Mittel werden an anderer Stelle fehlen, v. a. beim pädagogischen Personal.

Fazit

Das Positionspapier der GI fußt auf einer oberflächlichen und ausschnitthaften Bestandsaufnahme des Unterrichts während der Schulschließungen und verbindet diese mit der unterstellten Alternativlosigkeit eines digitalen Transformationsprozesses der Schulen. Dies ermöglicht zwar, rhetorisch das Fehlen von Begründungen zu überdecken, eine ernstzunehmende Diskussionsgrundlage bietet es aber nicht.

 

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Offensive Digitale Schultransformation – kritische Anmerkungen zum Positionspapier der GI