Veröffentlicht am 25.06.23

Lesekrise – oder: Das Daddeln der anderen

Zuerst war’s der IQB-Bildungstrend 2021, kürzlich legte IGLU nach: Immer weniger Viertklässler können beim Übertritt in weiterführende Schulen richtig lesen, immer stärker unterscheiden sich bessere und schlechtere Leser. Dabei hängt vom guten Lesen fast alles im weiteren Leben ab. Nicht zuletzt geht’s hier um Bildungsgerechtigkeit.

Von Michael Felten.

Belastungen durch Migration und Pandemie mögen mitgewirkt haben, aber der Abstieg der Grundschule zeigte sich schon seit 2011. Auch die vielerorts missglückte Inklusion wird ihren Teil beigetragen haben. Dennoch scheint es, als werde bisher Wichtiges übersehen. Es gibt nämlich einen ‚Elefanten im Raum‘, über den niemand spricht! Tatsächlich fällt der Rückgang der Leseleistungen von Viertklässlern auffällig zusammen mit dem Siegeszug von Smartphone & Co. Eigentlich ist es ja offensichtlich: Das Daddeln der Erwachsenen bindet zunehmend die Aufmerksamkeit familiärer Bezugspersonen – was wiederum das elterliche Bindungsverhalten und damit das Lernverhalten der Kinder beeinflusst.

Folgen wir einmal in Ruhe der Biografie eines im Frühjahr 2021 getesteten Viertklässlers – ich nenne ihn Paul. Die Digitalisierung des Unterrichts selbst war für ihn noch das geringere Problem – mangels Verbreitung. Zwar drängen die Medienkonzerne über ihre Verbindungsleute in Ministerien und an Schulen mächtig darauf, auch schon jüngere Schüler mit technology zu beglücken. Aber hiesige Kinderärzte warnen deutlich, und der jüngste Faktencheck der Mercator-Stiftung (PDF, s.u.) benennt durchaus erhebliche Risiken eines digital gestützten Anfangsunterrichts. Deshalb tritt ein früheres Vorzeigeland wie Schweden nach IGLU merklich auf die Bremse. „Wir brauchen mehr professionell gestaltete Bücher und müssen davon wegkommen, dass die Schüler selbst im Internet nach Informationen suchen“, so die Bildungsministerin des Landes.

Pauls Lesefähigkeit könnte auch dadurch gelitten haben, dass selbstgesteuertes Lernen im Anfangsunterricht lange hoch im Kurs stand. Zwar wird etwa „Lesen durch Schreiben“ nach wissenschaftlicher Kritik zunehmend zurückgezogen, ja verboten – war indes im vergangenen Jahrzehnt durchaus noch en vogue.

Aber womöglich war Pauls Leben vor der Schule weitaus relevanter. Er wurde ja um 2011 geboren. Damals nutzten zwar erst gut ein Drittel der über 14-jährigen ein Smartphone, aber seine junge Mutter könnte gut dabei gewesen sein. Sie war also womöglich schon beim Stillen mit Whatsappen beschäftigt, anstatt mit Blickkontakt und Erzählen; ebenso wenn sie mit dem Jogger-Buggy unterwegs war, bei dem das Baby nicht mehr die Mimik der Mama sehen kann, sondern nur flüchtige Eindrücke von der Welt mitbekommt. Später könnte ihm der junge Papa ein digitales Spielgerät in die Hand gedrückt haben, „damit sich das Kind später besser zurecht findet in einer Welt voller IT“. Wenn es überhaupt einen Papa gab. Spätestens mit zwei ging’s dann ab in die Kita, auch wenn dort viel zu selten genug qualifiziertes Personal war – es musste ja dazuverdient werden, oder keiner wollte beruflich zurückfallen. Schließlich, bei den gemeinsamen Mahlzeiten am Abend – oder bei Ausflügen am Wochenende – wird der Junge immer öfter erlebt haben, dass seine Bezugspersonen irgendwie absorbiert waren – ständig hatten sie was nachzusehen, etwas zu posten, irgendwem Echo zu geben. Ihm würde also das fehlen, was Verhaltensforscher wie Tomasello „geteilte Aufmerksamkeit“ nennen – und als existenziell betrachten.

Nicht dass Sie denken, das wäre Seemannsgarn: Alles ist selbst erlebt, und zwar häufig – und auch Ihnen werden solche Beobachtungen nicht fremd sein. Dennoch hat dies zunächst nur anekdotische Relevanz. Aber: Es gibt auch Forschung dazu. Die BLIKK-Studie etwa, eine empirische Querschnittstudie mit 5.573 einbezogenen Kindern und Jugendlichen aus 79 Kinder- und Jugendarztpraxen, zeigte schon 2017 deutlich, dass Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, körperliche Hyperaktivität und innere Unruhe bis hin zu aggressivem Verhalten in dem Maße zunehmen, wie digitale Medien im (Klein)Kind(es)alter genutzt werden. Solche Korrelationen gelten zwar nicht als letzter Ursache-Wirkungs-Beweis. Indes gibt es weitere Hinweise: Einem systematischen Review der IPU Berlin zufolge reagieren Eltern bei der Nutzung portabler digitaler Geräte weniger feinfühlig und responsiv auf ihre Kinder, die elterliche Gerätenutzung führt zu Selbstregulationsstörungen der Kinder; dies „scheint mit Beeinträchtigungen des kindlichen Lernens einherzugehen“.

Der digitale Raum bietet wunderbare Werkzeuge für Verschiedenstes, ist aber eine äußerst heikle Sphäre für Entwicklungsjahre. Und zwar weit über die Irritationen durch sex & crime hinaus, die die niedersächsische Digitalbotschafterin Silke Müller kürzlich so eindrucksvoll beschrieb.  Smartphones stehlen nicht nur Heranwachsenden viel Zeit, sie lassen auch die fürsorgliche Aufmerksamkeit der Erwachsenen verkümmern. Momos Graue Herren sind unter uns, in neuer Form – aber das wollen wir ungern hören; wir wünschen uns, dass die Geräte einfach nur praktisch sind – und wir nicht einzugreifen brauchen. Was uns ja auch ganz viele einreden – von denen, die technology verkaufen, bis zu denen, die durch Digitalität zu neuen Experten geworden sind.

Beim schlecht lesenden Viertklässler Paul können wir die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Aber im Hinblick auf Jüngere könnten wir unser aufklärerisches Potential als Multiplikatoren nutzen: Indem wir auf dem nächsten Elternabend den TOP ‚Digitalrisiko‘ unterbringen. Gerade bildungsfernere Eltern wissen nicht um die erzieherische Tragik des Daddelns auf Seiten der Erwachsenen – insbesondere die vernachlässigende Absorbiertheit. Viele wären zudem dankbar, die 3-6-9-12-Faustregel (PDF, s.u.) des französischen Psychologen Tisseron kennenzulernen: Kein Fernsehen unter 3 Jahren, keine eigene Spielkonsole vor 6, Internet nach 9 und soziale Netzwerke erst ab 12. In den USA plädieren Elternverbände mittlerweile gar für „Wait until eighth!“, ‚Wartet mit Smartphones bis zur 8. Klasse!‘ Das hört sich für manche unmöglich, für andere unmenschlich an – aber es täte den Kindern wohl gut. Sogar ältere Internatsschüler waren laut einem Bericht der NZZ letztlich dankbar, als man ihnen den Gebrauch des Smartphones auf dem Campus verboten hat – weil sie dann mehr miteinander machten.

PDF: Mercator-Stiftung

PDF: 3-6-9-12-Faustregel

Ein Beitrag von Michael Felten. Der Pädagoge und Publizist Michael Felten hat mehr als 30 Jahre an einem Gymnasium unterrichtet und arbeitet jetzt als freier Schulentwicklungsberater. Er publiziert unter anderem in der „Zeit“ und auf dem „Deutschen Schulportal“. Letzte Veröffentlichungen: „Unterricht ist Beziehungssache“ (Reclam 2020) und „Schwierige Schüler“ (Reclam 2023). Online: https://eltern-lehrer-fragen.de/, https://bildung-nrw-da-geht-doch-mehr.info/ und „FeltensLehrerClips“ bei YouTube