Veröffentlicht am 23.05.20

„Kernkompetenz Flexibilität“

Ein Kommentar zum SPIEGEL-Artikel „Schule in Zeiten von Corona“ von Tilman Gruhn

Schulen sind in der Corona-Krise gegen Übergriffe aus der Wirtschaft nur „bedingt abwehrbereit“1. Eine polemische Betrachtung in aufklärerischer Absicht.

Am Dienstag, 14. April 2020, während der Osterferien nach den ersten drei Wochen Fernunterricht an deutschen Schulen, erschien im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein Artikel mit der Überschrift „Schule in Zeiten von Corona. Was wir jetzt über das Lernen lernen“.2 Der Artikel kann als exemplarisch für den herrschenden Diskurs zum Thema Schule gelten und ist somit einer näheren Betrachtung wert.

Das Problematische an diesem Text ist, dass in ihm (teilweise) berechtigte Fragen zum ‚Distanzunterricht‘ mit einer neoliberalen Agenda (nicht auf Anhieb erkennbar) verwoben sind.3 Chefredakteur des Spiegels ist seit 2018 der, nach Einschätzung von Jörg Gastmann, „erzneoliberale“ Steffen Klusmann, „zuvor Chefredakteur des Manager Magazins, das einer Vertretung gesamtgesellschaftlicher Interessen unverdächtig ist.“4 Wir haben es hier also mit einem Artikel aus einem neoliberal geführten Medium zu tun. Die Autorin Silke Fokken, Redakteurin im Bildungsressort, reproduziert in ihrem Text den entsprechenden gesellschaftlichen Diskurs respektive die in der Spiegel-Redaktion vorherrschende „Denke“. Meine folgende Kritik ist dementsprechend nicht als Angriff auf die Person der Autorin zu verstehen, deren Integrität hier nicht in Zweifel gezogen werden soll, sondern als eine in Teilen polemische Auseinandersetzung mit ihren Thesen und Argumenten sowie eine genaue Analyse der Sprache und Begrifflichkeiten, in denen diese vorgetragen werden.

Der Text referiert zunächst eine in den ‚sozialen Netzwerken‘ verbreitete Tirade einer israelischen Mutter von vier Kinder zum Thema ‚Homeschooling‘ und wirft dann zwei Fragen auf, die perspektivisch weit über die aktuelle Krisenbewältigung hinausgehen:5

  1. Worauf kommt es im Unterricht eigentlich an?
  2. Was sollten Schulen in Zukunft anders machen?

Es handelt sich um zwei für die Reflexion schulischer Bildung grundlegende Fragen, die so oder ähnlich schon häufig gestellt wurden und notwendigerweise immer wieder ge- stellt werden müssen. Ihre Beantwortung obliegt normalerweise Erziehungswissenschaftlern, Schuldidaktikern und Lehrern, die über den nötigen bildungstheoretischen Hintergrund verfügen. Werden diese Fragen richtig beantwortet, so können sie sehr fruchtbar für die immer wieder notwendige Erneuerung (‚Renaissance‘6) von Bildung sein. Die folgenden Ausführungen Silke Fokkens lassen allerdings daran zweifeln, ob dies hier der Fall ist.

Sie stellt fünf Thesen auf:

  1. „Wer jetzt am Lehrplan festhält, hat den Bildungsauftrag missverstanden.“
  2. „Die Coronakrise fordert überfällige Antworten auf alte Ungerechtigkeiten.“
  3. „Wer heute auf die Bildungspolitik wartet, hat morgen verloren.“
  4. „Wer Plattformen pusht, darf die Pädagogen nicht vergessen.“
  5. „Wer mäßig motivierte Schüler vor sich hat, sollte mal umdenken.“

Die jeweils zugehörigen Argumentationen sollen hier auszugsweise wiedergegeben und kommentiert werden.

(…)

 

Der vollständige Beitrag als PDF zum Weiterlesen: Kommentar zum SPIEGEL-Artikel ‚Schule in Zeiten von Corona‘ (2020-04-14)

 

1 Überschrift des Spiegel-Artikels vom 10. Oktober 1962, der die sogenannte „Spiegel-Affäre“ auslöste.

2 Fokken (2020)

3 Der Begriff ‚Neoliberalismus‘ soll hier für diejenige Spielart des Kapitalismus Verwendung finden, die der Profitmaximierung alles andere unterordnet und dabei auf Wettbewerb, die ‚Kräfte des Marktes‘ und den Rückbau staatlicher Institutionen setzt.

4 Gastmann (2018)

5 Daran, und auch bereits in der Einleitung des Textes („was sich in der Bildung künftig ändern muss“) wird deutlich, dass die ‚Corona-Krise‘ hier als Aufhänger herhalten muss, um weitgehende Forderungen zur dauerhaften Veränderung des Schulsystems vorzubringen. Der Gedanke, die „Krise als Chance“ zu begreifen, wird hier in seiner ganzen, problematischen Ambivalenz sichtbar.