Veröffentlicht am 10.04.12

Der Angriff der Neoliberalen auf die Kulturförderung der öffentlichen Hand

Die Hälfte aller staatlich geförderten Theater, Museen oder Bibliotheken in Deutschland könne geschlossen werden. Das behaupten vier ausgewiesene Experten in einem Beitrag für den SPIEGEL. Dieter Haselbach (Leiter des Zentrums für Kulturforschung bei Bonn), Armin Klein (Professor für Kulturmanagement in Ludwigsburg), Pius Knüsel (Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia) und Stephan Opitz (Leiter des Referats für Kulturelle Grundsatzfragen im Bildungsministerium von Schleswig-Holstein) sind davon überzeugt, dass die Forderung „Kultur für alle“ gescheitert sei. Das kulturelle Angebot wachse ständig, die Zahl der Konsumenten dagegen nicht. Die Autoren folgern daraus, dass man künftig auf die Hälfte der subventionierten Institutionen verzichten könne. Das System werde dann besser funktionieren. Die frei werdenden Mittel müssten neu verteilt werden. Das Ziel der Autoren ist es, den Staat aus der Verantwortung für die „ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ (Schiller) zu entlassen. Kulturpolitik sei heute „ein anonymer Auftrag an viele zur normativen Anpassung an wenige“. In Zukunft müsse sie dafür sorgen, dass es nur „Regeln“ geben solle, „in denen die Menschen, frei und ihrer selbst mächtig, sich entfalten“ können. (Quelle: Spiegel online 11.03.2012)

Kommentar: Matthias Burchardt

Die obigen Thesen, die die genannten Autoren in ihrem Buch „Kulturinfarkt“ entfaltet haben, sind in den Feuilletons der Zeitungen (zufällige Auswahl hier, hier, hier und hier) und in den Kulturmagazinen der Rundfunksender heftig diskutiert worden (zufällige Auswahl hier und hier). Glücklicherweise gab es viele Gegenstimmen, die betonten, dass Kultur ein Gut und keine Ware ist, dass Kreativität nicht am Marktwert zu bemessen und dass Kunstgenuss kein Akt des Konsums, sondern der Bildung ist (Exemplarisch der Appell zur Verteidigung der Kultur). Doch so erfreulich einerseits differenziert und engagiert der Widerspruch gegen die schneidigen Thesen der Autoren auch ausfällt, so bedenklich ist es doch auf der anderen Seite, wie viel mediale Aufmerksamkeit man der Streitschrift  überhaupt widmet. Wer etwas kritisiert, unterstellt seinem Gegenstand doch zumindest, dass er es wert sei, kritisiert zu werden. Im Grunde widerfährt dem Machwerk zum ›Kulturinfarkt‹, das unverhohlen die Fundamente des traditionellen europäischen Kulturverständnisses angreift, durch eine Widerlegung schon zu viel der Ehre. Ich möchte deshalb vorschlagen, den ganzen Diskurs als Beispiel ökonomistischer Propaganda zu lesen, als eine bewusste Inszenierung nach bewährtem Muster, das schon beim Umbau der  Hochschullandschaft und des Gesundheitssystems zum Einsatz kam.

Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass der Münchener Knaus-Verlag, in dem das provokative Buch erschienen ist, zur Random-House Gruppe der Bertelsmann-AG gehört. Womöglich sind es – trotz der 25% Sperrminorität der Gütersloher am Spiegel via Gruner&Jahr – tatsächlich unabhängige redaktionelle Entscheidungen, die pünktlich zum Montag die neuesten Reformfanfaren der Bertelsmannstiftung (›Lernatlas‹, ›Chancenspiegel‹ usf.) im Blätterwald erklingen lassen. Was aber bedeutet es, dass der Unternehmensberater und leitende Autor des ›Kulturinfarktes‹ Prof. Dr. Dieter Haselbach im Auftrag der Bertelsmann Stiftung mit der Entwicklung eines Qualitätsmanagement-Systems Kultur beauftragt ist? Meiner Meinung nach gibt die ganze Debatte ein gutes Beispiel für die Bertelsmann-Reform-Strategie ab, wie sie in der programmatischen Schrift ›Die Kunst des Reformierens‹ ausbuchstabiert wurde:

1. Durch die Inszenierung öffentlicher Aufmerksamkeit sorgt man dafür, dass ein Thema auf die öffentliche Agenda kommt. Wortführer sind dabei nicht die Betroffenen, Interessengruppen oder Fachwissenschaftler, sondern sogenannte ›Experten‹, wie in diesem Fall Herr Haselbach. Das Bestehende wird schlecht geredet, Privatisierung und Marktförmigkeit als Allheilmittel angepriesen.

2. Auch schon die zweite Phase einer ökonomistischen Reform des Kultursektors ist vorbereitet. Durch die angezettelte Debatte wird die Konkurrenz zwischen staatlich geförderten Einrichtungen untereinander und ebenso mit der freien Szene provoziert. Auf diese Weise spielt man die Akteure bewusst gegeneinander aus und verhindert so ungewollte Solidarisierungen. Bertelsmann: ›Policy-Designs, die gezielt die Schwächung der internen Kohärenz von potenziellen Vetospielern bzw. von starken Interessengruppen anpeilen, begünstigen Reformen.‹ (A.a.O. S.65) Reformen dieser Art geschehen nicht, weil alle dafür sind, sondern weil man dafür sorgt, dass die Mehrheit, die dagegen ist, nicht mit einer Stimme spricht. Divide et impera!

3. Begleitet wird dieser Angriff auf das traditionelle Kulturverständnis durch multimediale ›Reformkommunikation‹, in der die Gegner der Reform als ›rückständig‹, Besitzstandswahrer oder Vertreter von Partikularinteressen diffamiert werden. Zudem werden unterschwellig neue Standards für die Qualität von Kultur etabliert, die bewusst Ressentiments gegen anspruchvolle ästhetische Diskurse ins Feld führen und den Aspekt der Unterhaltung zum Kriterium machen. Auf diese Weise wird schließlich auch der Unterschied von Kulturindustrie und Kultur nivelliert.

Eines müsste aus dem Strategie-Papier der Bertelsmannstiftung deutlich geworden sein: Viel wichtiger als die Diskussion über die Schließung von Museen und Theatern wäre eine Debatte über den Demokratieinfarkt, den die politische Kultur erleidet, wenn sie nicht entschiedener auf postdemokratische Übergriffe durch Lobby-Gruppen hinweist und reagiert.

Das Strategie-Papier der Bertelsmannstiftung: Die Kunst des Reformierens