Veröffentlicht am 11.12.13

Demokratisierung statt Ökonomisierung

Marburger Bildungsaufruf wirkt. Erste Bilanz von B. Georgy

Die Unterwerfung von immer mehr Lebensbereichen unter das Diktat der Ökonomie kommt zunehmend ins Gerede. Immer fragwürdiger wird vielen, was vor wenigen Jahren noch den meisten als unumstößliche Tatsache erschien: dass der Markt der optimale Mechanismus zur Regulierung gesellschaftlicher Prozesse sei und dass man sich seinen Gesetzen zu beugen und seinen Anforderungen anzupassen habe. Aber inzwischen kann ja auch niemand mehr die Ergebnisse dieser Unterwerfung übersehen – in Gestalt der ökonomischen, sozialen, politischen und menschlichen Krisen und Katastrophen. Selbst ein so sprödes Insiderthema wie die neoliberale Formierung des Bildungswesens ist zum Gegenstand einer kritischen öffentlichen Debatte geworden. Erwin Wagenhofers neuer Film „Alphabet“, so Dietrich Kuhlbrodt in seiner Rezension in Konkret, „wendet sich manifestartig gegen die Kreativvernichtung durch PISA und die Beflissenheit, mit der das weltweit geltende wirtschaftsorientierte Bildungssystem junge Menschen zu Mitgliedern der Leistungsgesellschaft drillt – am liebsten ohne eigene Haltung.“

Genau darum geht es bekanntlich auch dem Marburger Bildungsaufruf. (Die HLZ berichtete; Text und Hintergrundinformation auf der Homepage der GEW Hessen. Entwickelt als Fazit und Konsequenz der Vortragsreihe „Ökonomisierung oder Demokratisierung? Was wird aus unserem Bildungswesen?“ im letzten Winter in Marburg (auch darüber berichtete die HLZ; Infos auf der Homepage der GEW Hessen – dort in Kürze auch die Transkription sämtlicher Vorträge), reagiert er auf die immer penetrantere Ausrichtung unserer Schulen auf Marktmechanismen und Wirtschaftsinteressen, die wir seit einigen Jahren erleben – beginnend mit der Schulzeitverkürzung (G8), die auf Kosten der Schüler_innen und ihrer Bildungsinteressen die „Effektivität“ steigern soll(te), fortgesetzt mit den Bildungsstandards, die den Unterricht verengen sollen auf das Antrainieren betrieblich verwertbarer „Kompetenzen“, und schließlich abzielend auf „selbstständige“ Schulen, die „am Markt“ miteinander konkurrieren und sich schrittweise in Richtung Privatisierung bewegen. Gegen diesen neoliberalen Umbau der hessischen Schulen nimmt der Marburger Bildungsaufruf Stellung und fordert stattdessen ein Bildungswesen, in dem die Kinder und Jugendlichen und ihre umfassende Bildung und Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund stehen, übergeordnete demokratische Bildungs- und Erziehungsziele wie Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit verfolgt werden, echte Mitbestimmung und pädagogische Freiheit und Verantwortlichkeit herrschen. „Schule ist kein Wirtschaftsunternehmen! Kinder und Jugendliche sind kein ´Humankapital´! Wir fordern deshalb eine Bildung, die nicht dem Markt, sondern der Demokratie verpflichtet ist!“, so fasst der Aufruf seine Forderungen zusammen, um schließlich zu erklären: „Eine bessere Schule ist möglich!“

Der Marburger Bildungsaufruf sollte vor allem Diskussionen auslösen und so zur Meinungs- und Willensbildung unter den Kolleg_innen und in der Öffentlichkeit beitragen. Das scheint gelungen zu sein, wo es versucht wurde. Da, wo engagierte Kolleg_innen den Text zumindest kursieren ließen, gab es Gespräche, Kontroversen – und viele Unterschriften. Manchmal sehr viele: Am Marburger Gymnasium Philippinum waren es innerhalb weniger Tage über 70. Gelegentlich unterschrieben offensichtlich ganze Kollegien – bis hin zur Schulleitung. Auffällig viele Förderschullehrer_innen wurden möglicherweise durch ihren geschärften pädagogischen Blick zur Unterschrift veranlasst. Offenbar gab es aber oft genug auch das andere: Kolleg_innen berichten von Resignation, Passivität, Zynismus, die es schwer oder gar unmöglich machten, Unterzeichner zu gewinnen. Wobei andererseits gerade von dem Dauerbombardement mit neoliberalen Schul-„Reformen“ besonders frustrierte Kolleg_innen sich häufig froh und erleichtert äußerten, dass „endlich mal was passiert“.

Sehr interessant auch die Erfahrungen außerhalb der Schulen, wo – vor allem in politisierten Situationen – engagierte und nachdenkliche Menschen sich ausgesprochen offen für die (eben nicht nur für Lehrer bedeutsame) Problematik zeigten und den Aufruf gründlich studierten, diskutierten und eben auch unterschrieben – ob beim Marburger Bildungsfest, der Elterndemo für G9, dem Montagsgebet gegen die Privatisierung der mittelhessischen Unikliniken, der großen DGB-Demo für einen Politikwechsel kurz vor den Wahlen oder am 1.Mai – wo z.B. der SPD-Ortsverband Marburg und der dortige Oberbürgermeister sich dem Aufruf anschlossen.

Weshalb unterstützen Menschen den Marburger Bildungsaufruf? Viele Unterzeichner_innen der Online-Version begründeten ihre Entscheidung. um Beispiel so: „Dieser überparteiliche Aufruf ist ein wichtiger Beitrag dazu, Schule aus dem von vielen still hingenommenen Diktat der OECD- und PISA und Co-Akteure und damit aus der Fremdbestimmung durch Ökonomisierung zu befreien.“ Oder: „Sie sprechen mir aus dem Herzen – führen Sie Ihren Widerstand fort! Nur wer über Jahre G8, Kompetenzorientierung etc. mitmachen musste, weiß, dass genau darin der riesengroße Rückschritt, sprich Rückzug aus der Wissensgesellschaft besteht …“ Oder auch: „Weil Bildung mehr ist als ein Wirtschaftsfaktor.“ „Als Psychoanalytikerin bin ich täglich in meiner Praxis mit jungen Menschen befasst, die … sich als Lernmaschinen sehen und dabei persönlich und emotional verkümmern.“ „Echte Bildung verkommt immer mehr. Die Kinder verblöden immer mehr zum Homo ökonomicus.“ „Wir brauchen … endlich mehr Freiraum für das eigentliche Ziel von unserem Bildungssystem: ein freier, mündiger Bürger werden zu können, mit eigener Meinung, einem guten Allgemeinwissen, vielen bunten Ideen im Kopf und Freude am Leben!“ „Weil auch mir als gewerkschaftlich aktivem Rentner es nicht egal sein kann, wie sich Bildung immer mehr an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit und nicht mehr an demokratischen, sozialen und humanistischen Werten orientiert. … Hier gilt es gegenzuhalten …“ Oder auch: „Ihr Aufruf entspricht in allen Punkten meiner Auffassung von ganzheitlicher Bildung als emanzipatorischem Prozess …“ Letzteres übrigens die Begründung von Andrea Ypsilanti für ihre Unterschrift.

Sie ist nicht der einzige „Promi“ auf der Liste. Thomas Spies und Angelika Löber, die beiden Marburger Landtagsabgeordneten, haben ihre Unterstützung erklärt, Heike Habermann, die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, und Fraktion und Landesvorstand der hessischen Linken – abgesehen von den Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen der Betroffenen von Jochen Nagel bis Oskar Negt, die als Erstunterzeichner bereits zu den Trägern des Aufrufs gehörten. Viel wichtiger sind aber vielleicht die Unterstützungsbeschlüsse der hessischen Gewerkschaften – von DGB, ver.di, IG Metall, IG BCE, IG BAU, NGG und vor allem natürlich GEW, die bei der Verbreitung des Aufrufs die entscheidende Rolle spielte -, der Landes-Schülervertretung, der Asten der Unis Kassel und Marburg, der Gesellschaft für Bildung und Wissen, der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik.

Und wozu nun das Ganze? Natürlich werden Aufruf und Unterschriften der/dem neuen Kultusminister/in umgehend auf den Schreibtisch gelegt, sobald sie/er im Amt ist. Aber wird die neoliberale Mühle nicht einfach weitermahlen? Was sind ein paar kritische Gedanken und ein paar tausend Unterschriften gegen die mächtigen Apparate von OECD, PISA-Konsortium, Bertelsmann-Stiftung, KMK und die Steuerungsmittel und Durchsetzungsstrategien der „soft governance“? Die Hysterie, mit der auf die schwachen Stimmen der Kritiker reagiert wird, sollte zu denken geben. Offenbar kratzen sie an der Diskurshoheit der Akteure der neoliberalen Transformation und damit an deren entscheidender Voraussetzung. Möglicherweise gibt es tatsächlich erste Risse in der neoliberalen Hegemonie im Bildungsbereich – nicht nur in Chile, Österreich, Baden-Württemberg, Hamburg. Und vielleicht hat Paul Hafner aus Frankfurt recht, der seine Unterschrift unter den Marburger Bildungsaufruf so begründet: „Schule und Politik sind ignorant gegenüber jeder wissenschaftlichen Erkenntnis und den Erfahrungen der Betroffenen… Man hat den Eindruck, dass Leistungsoptimierung und ökonomische Verwertbarkeit des ´Menschenmaterials´ die wichtigsten Ziele sind. Leider gibt es noch zu viele Lehrer und Eltern, die dieses Spiel mitspielen – und auch zu viele, die längst resigniert haben. Vielleicht hilft diese Petition den Betroffenen – SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen – neuen Mut zu geben, aus der Deckung zu kommen, sich zu wehren und konkrete Forderungen laut und deutlich in die Debatte zu werfen…“