Veröffentlicht am 21.01.24

Andreas Schleicher zu den Pisa-Ergebnisse 2023 – Selbstbespiegelung statt Selbstreflexion

Man würde seine Zeit nicht opfern wollen und sich mit Andreas Schleicher auseinandersetzen, wenn seine ebenso hilflosen wie entbehrlichen (Selbst-)Interpretationen der Pisa-Studien und –ergebnisse nicht allzu bereitwillig von den Medien aufgegriffen würden und auch dadurch so viel öffentliche Aufmerksamkeit weckten. Erwartungsgemäß kommentiert der Bildungsdirektor der OECD und „Pisachef“ die erzielten Ergebnisse deutscher Schülerinnen und Schüler bei der jüngsten internationalen Vergleichsstudie in gewohnter Einseitigkeit und ohne erkennbare Bereitschaft zur Selbstbefragung. Es ist schon bemerkenswert und wäre der Gegenstand nicht viel zu ernst – fast könnte man amüsiert darüber sein, mit welcher Konsequenz und Unnachgiebigkeit gegenüber der eigenen Reputation zumindest bei den Sachkundigen hier ein empirischer Kompetenzierer von Schule und Unterricht ungewollt seine eigene Inkompetenz zu professioneller Diagnose diagnostiziert.

Unbeachtet soll zunächst die viel diskutierte Frage bleiben, ob die Pisa-Studien überhaupt ein geeignetes Instrument darstellen, um valide Aussagen über die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern sowie Schulsystemen zu treffen, und im Sinne der Logik der Verantwortlichen der Studien unterstellt werden, dass sich daraus aussagekräftige Informationen gewinnen ließen. Dies einmal vorausgesetzt ist bezüglich der Schulleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler seit etwa einem Jahrzehnt ein steter Abwärtstrend erkennbar mit Ergebnissen, die inzwischen wieder unterhalb des zu Beginn der Erhebungen vor über 20 Jahren Erreichten liegen.

Für Schleicher sind die Hauptverantwortlichen am beobachteten Abstieg schnell ausgemacht. Nachgerade obsessiv benutzt er Ergebnisse der Studien, um alte Klischees zu bedienen und ein Zerrbild der Lehrkräfte und Schulen in Deutschland zu zeichnen. Das lässt sich wie folgt zusammenfassen: Lt. Schleicher haben wir es mit einem larmoyanten Berufsstand zu tun, dessen zur Schau getragene Wehleidigkeit angesichts (auch behaupteter) beruflicher Be- bzw. Überlastung nirgends sonst geduldet würde und die er zum Anlass nehme, an Gewohntem festzuhalten und sich Änderungen und Innovationen zu verschließen. Nach fast einem viertel Jahrhundert seien – so Schleicher – deutsche Lehrkräfte noch immer nicht im 21. Jahrhundert angekommen: Einzelkämpfer ohne Bereitschaft, im Team neue Unterrichtskonzepte zu entwickeln. Nach wie vor vom (Selbst-)Verständnis des Befehlsempfängers gekennzeichnet gelinge es ihnen nicht, Schülerinnen und Schüler über auswendig gelerntes Wissen hinaus zu Transferleistungen zu befähigen und Fakten von Meinungen zu unterscheiden.

Der Befund befremdet, fragt man sich doch, woher der Kompetenzempiriker das alles so genau weiß. Direkt aus den Studien sind die Ergebnisse nicht zu gewinnen, denn die fragen nach alldem ja gar nicht. Es fehlt nicht weniger als die empirische Beglaubigung. Solch großzügige Nachlässigkeit ist man aus der Vergangenheit gewohnt und insofern auch nicht mehr überrascht, was indes konsterniert, ist, dass einer der Beschwörer der Notwendigkeit einer empirischen Wende den blanken Widerspruch nicht bemerkt.

Zu den großen Widersprüchen zählt übrigens auch, dass ausgerechnet der „Pisachef“ als Exponent eines Konsortiums, das die Schulen einem Steuerungsregiment unterwirft, wie man es in der bundesrepublikanischen Geschichte bislang nicht kannte, sich über die angebliche Befehlsempfängermentalität deutscher Lehrkräfte beklagt.

Von deutschen Schülerinnen und Schülern wird im Unterricht und in Leistungsüberprüfungen der Nachweis ihrer Fähigkeiten zu differenzierten Analysen, Argumentationen, Darstellungen, Urteilen und Stellungnahmen erwartet. Würden sie zu Schleichers undifferenzierten Verkürzungen, Vereinseitigungen, Engführungen greifen, ohne Rechenschaft abzulegen über Kriterien und Methoden ihres Vorgehens, sie dürften sich dezidierten Nachfragen gegenüber sehen. Nur, nach den genannten Kompetenzen wird in den standardisierten Aufgaben nicht gefragt. Das verbietet schon die computergestützte Auswertung, die auf simpler gestrickte Formate angewiesen ist.

Und damit sind wir bei den Fragen angelangt, die im Sinne einer gewinnbringenden Interpretation der Pisaergebnisse zu stellen notwendig wären und über die Schleicher hinwegtäuscht. Das ist ein weites Feld, ich beschränke mich auf das ganz Naheliegende.

Der große, sogenannte Pisaschock zu Beginn des Millenniums hat der empirischen Bildungsforschung – oder besser: der empirischen Kompetenzforschung, denn diese war ja angetreten, den alten Bildungsbegriff abzulösen – zu unverhofftem Durchbruch verholfen.

Daran waren große Hoffnungen geknüpft. Die Umstellung des Unterrichts von Lernzielen auf Kompetenzen und vom Inputdenken auf die damit verbundene Outputverfolgung sollte Leistungen endlich objektiv messbar und insgesamt im Sinne des neoliberalen Paradigmas steuerbar machen. Gemessen an der Logik der international erhobenen und standardisierten Testungen und deren gemutmaßter Aussagekraft sind diese Träume angesichts der Resultate zerfallen.

Rainer Böllings überzeugende Auseinandersetzung mit den Pisaergebnissen in der FAZ vom 18.01.2024 (S.6) mündet in Zweifel, ob sich die immensen Kosten der Erhebungen noch rechtfertigen lassen. Und in der Tat: Wenn die beständigen Wiederholungen der Massentests, wenn die seither aufgelegten Programme, wenn die zahlreichen Reformen und Umstrukturierungen in Bezug auf die mit den gewählten Werkzeugen in den Blick genommenen Testanforderungen offenkundig keine Verbesserungen zeitigten, im Gegenteil hinter die Ausgangslage zurückführten, dann müssten anstelle kurzsichtiger Invektiven gegen Lehrkräfte oder andere vermeintlich Schuldige die Instrumentarien selbst endlich einer Prüfung unterzogen werden, will man nicht noch das hinreichend belegte Scheitern als Bestätigung für ein fruchtloses Weiter-So nehmen. Die damit freigesetzten Ressourcen und Energien bieten jedenfalls mehr Aussicht auf Erfolg, als weiterhin einer unbrauchbaren Testindustrie Geld zur Verfügung zu stellen, das für konkrete Maßnahmen vor Ort dringender benötigt wird und mit Sicherheit sinnvoller investiert wäre.

Quellen:

Rainer Bölling: Zweifel an der Sinnhaftigkeit der PISA-Daten, in FAZ, 18.01.2024, S. 6.

https://www.focus.de/panorama/welt/andreas-schleicher-pisa-chef-rechnet-mit-deutschen-lehrern-ab-ich-habe-ganz-ehrlich-wenig-verstaendnis_id_259590343.html (Abruf 20.01.2024)

https://www.oecd.org/media/oecdorg/satellitesites/berlincentre/pressethemen/GERMANY_Country-Note-PISA-2022_DEU.pdf (Abruf 20.01.2024)

https://www.spiegel.de/panorama/bildung/pisa-studie-lehrer-zu-bequem-verband-wirft-oecd-bildungsdirektor-andreas-schleicher-stammtischparolen-vor-a-cf288f5e-dccf-4dae-8338-7ea624e6a2b2 (Abruf 20.01.2024)

Der Beitrag als PDF: Andreas Schleicher über Pisa 2023 – Selbstbespiegelung statt Selbstreflexion