Veröffentlicht am 15.08.12

›Kompetenz‹

Auch Sprachspiele kennen Sieger und Verlierer. ›Kompetenz‹ jedenfalls hat es in den letzten Jahren in den Olymp der Modebegriffe geschafft: Allenthalben sprießen ›Kompetenz-Zentren‹ hervor, werden durch ›Kompetenz-Netzwerke‹ die viel beschworenen ›Synergieeffekte‹ nutzbar gemacht. Politiker scharen in Wahlkampfzeiten ganze ›Kompetenz-Teams‹ um sich, und ein großer deutscher Haushaltsgerätehersteller tauft sogar einen Herd auf den Namen ›Competence‹. Ratgeberliteratur widmet sich dem ›kompetenten Säugling‹ und im Zeichen der demographischen Entwicklung erscheint ›kompetentes Altern‹ mehr als nur als ein Lifestyleaccessoire. Gewiss tragen auch die erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurse, in denen der Begriff ein fruchtbares Biotop fand, zu dieser Popularität bei. (Vgl. Medienkompetenz, soziale Kompetenz, kommunikative Kompetenz, Handlungskompetenz, Fachkompetenz, Methodenkompetenz bis hin zur Inkompetenzkompensationskompetenz).

In langfristiger Perspektive mag dieses Phänomen an die Inflation der sogenannten ›Schlüsselqualifikationen‹ erinnern, so dass es möglicherweise so erscheint, als ob nur der berühmte alte Wein in neuen Schläuchen serviert würde. Aber handelt es sich hier nur um eine Umetikettierung, die die Inhalte schadlos überdauern? Könnte man statt ›Kompetenz‹beispielsweise einfach ›Bildung‹ sagen? Sind Leitbegriffe beliebig austauschbare Zeichen oder muss nicht geprüft werden, wie Denken und Handeln von ihnen infiziert werden? Was sind die Motive, gerade dem Kompetenzbegriff pädagogische Reflexion und erzieherische Praxis anzuvertrauen? Wie ist die Virulenz dieses Begriffes zu verstehen? Was macht ihn so anschlusswütig? Heilpädagogen schätzen den Kompetenzbegriff, weil er eine Abkehr von defi zitorientierten Ausdrücken ermöglicht. Schulpädagogen ermöglicht er eine Fokussierung ›gelingenden Unterrichts‹ auf das operationalisierbare Ziel des ›Kompetenzerwerbs‹. Bildungspolitiker erhoffen sich von einer kompetenzorientierten Reform der Lehrerausbildung eine Verbesserung der ›Qualität von Unterricht‹. Die europäische Wirtschaft schätzt ›Kompetenzerwerb und -entwicklung‹ als Investition zur Stärkung des rohstoffarmen Wirtschaftsraums für den Wettbewerb mit amerikanischen und asiatischen Märkten. Ermöglicht wurde diese Karriere von ›Kompetenz‹ durch eine Bedeutungsverschiebung, die der Begriff durchlaufen hat. So stand er zunächst für Befugnisse und Zuständigkeiten, die an Positionen in Institutionen geknüpft waren und das Handeln der Positionsinhaber regulierten, organisierten und kanalisierten. Mit der neuen Bedeutung von ›Fertigkeit‹ oder ›Können‹ wird die ›Kompetenz‹ jetzt den agierenden Subjekten inkorporiert. Als exemplarische Stationen dieser Umwertung ließen sich beispielsweise Chomsky aber auch Habermas nennen. Was lässt sich aber an dieser Verschiebung ablesen, wenn es darum geht, eine Gegenrechnung aufzumachen, die anführt, was durch den neuen ›Kompetenzialismus‹ aus dem Blick gerät, was aufs Spiel gesetzt wird?

Zeitkritisch fällt auf, dass die Hochschätzung der Kompetenzen des Einzelnen zusammenfällt mit der Krise der Sozialsysteme und der Marginalisierung staatlicher Regulationen wirtschaftlicher Prozesse durch die ökonomische Globalisierung. Die Ausstattung mit Kompetenzen durch ›lebenslanges Lernen‹ könnte im Schnittfeld politischer, pädagogischer und ökonomischer Diskurse gedeutet werden als Zwang zur Selbstökonomisierung zum ›Humankapital‹. Forciert wird diese Tendenz noch durch eine Individualisierung der Verantwortung, durch die die Vorsorge und die Absicherung vor Risiken (Rente, Arbeitslosigkeit, Krankheit) von der solidarischen Gemeinschaft auf den Einzelnen übertragen werden. Kompetenzen fungieren hier als ›Kapital‹ oder riskanter formuliert als ›Waffe im ungeschlichteten Krieg aller gegen alle‹ (Vgl. Peukert, Helmut: Refl exionen […]. ZfPäd 4/2000). Nur wer über Kompetenzen verfügt, funktioniert in einer kompetitiven Gesellschaft. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, den Kompetenzbegriff auf seine politisch-ökonomische Promiskuität hin zu befragen. Wichtiger noch ist eine Auseinandersetzung mit den verdeckten anthropologischen und bildungstheoretischen Implikationen, die er transportiert. Da wäre zunächst die Frage nach der Dignität des Inkompetenten: Sind der Alte, der Kranke und der Behinderte dysfunktionale Kompetenzversager? Muss ihnen durch Pädagogen der Ausgang aus ihrer (selbstverschuldeten) Inkompetenz gewiesen werden? Oder gehört nicht das Moment der Endlichkeit, das sich dem kompetent funktionalen Verfügungszugriff entzieht, zwangsläufi g mit zur conditio humana? Und weiter: Lässt sich Bildung tatsächlich auf Kompetenzerwerb und-entwicklung abbilden? Ist das Moment des Sich-ins-Verhältnis-Setzens, wie es beispielsweise in den Bildungsbewegungen der Selbsterkenntnis oder Urteilskraft aktualisiert wird, kompetenztheoretisch überhaupt zu fassen? Dies erscheint in bezug auf die Erziehungsziele besonders prekär, denn über die Ausstattung mit Kompetenzen hinaus steht die Pädagogik doch auch immer vor dem Problem, dass der Einsatz von Kompetenzen, die instrumentellen Charakter haben, vom Kompetenzträger selbst refl ektiert und verantwortet werden muss. Ist dies durch den Kompetenzansatz zu leisten oder müsste hier nicht ein anthropologisch und bildungstheoretisch angereichertes Modell sittlicher Bildung in Anschlag gebracht werden?

Der Begriff der ›sozialen Kompetenz‹ erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als ein Fetisch, insofern er die Spannung von äußerem Verhalten und innerer Haltung in ethischer Hinsicht nicht zu refl ektieren vermag. Entsprechend sind auch ›Fachkompetenz‹ und ›kommunikative Kompetenz‹ Verkürzungen von dem, was man ›Real-‹ und ›Sprachbildung‹ nennen könnte, denn über das Beherrschen von Fachinhalten oder kommunikativen Techniken hinaus, konstituieren sich Bildungsprozesse gerade im Verhältnis zu dem unverfügbaren An-spruch der Sache und im reflexiven Bezug zur Sprache, die mehr ist als ein bloßes Kommunikationsmittel. ›Kompetenzerwerb‹ – Bildung light für magere Zeiten!

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1/06)