Ulf Scharrer, Matthias Delarber
Originalveröffentlichung: Gymnasium Saar 2023, Ausgabe 2, S. 9-14 und Ausgabe 3, S. 15-18.
Lehrperson oder Lerncoach
Da in Zukunft Algorithmen, Geräte und vielleicht auch Roboter das Unterrichten übernehmen sollen, ändert sich natürlich auch die Funktion einer Lehrkraft. Ursprünglich aus dem Bereich des Nachhilfeunterrichts stammend, beherrscht der Begriff des Lerncoachs – jetzt auch Lernmanager oder Lernbegleiter – längst schulpädagogische Diskurse. In einem kurzen Abschnitt mit dem Titel „Vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter“ argumentieren Dräger & Müller-Eiselt (2015, 163-165): „Auf ihren Wissensvorsprung können Lehrkräfte in Zeiten von Suchmaschinen nicht mehr so leicht bauen, ihre Autorität beruht künftig auf der Fähigkeit, Orientierung und Feedback zu geben.“ Unbeschadet aller epistemologischen Forschungen der letzten Jahrzehnte setzen die beiden Bildungsexperten hier Information (und den Zugang dazu) mit Wissen gleich. Ohne den Wissensbegriff hier zu vertiefen, lässt sich festhalten, dass die KMK auf Wissen nicht verzichten will: „Dabei ist klar: Einordnung, Bewertung und Analyse setzen Wissen voraus. Insgesamt wird es noch stärker darauf ankommen, Fakten, Prozesse, Entwicklungen einerseits einzuordnen und zu verknüpfen und andererseits zu bewerten und dazu Stellung zu nehmen.
Auf diese Weise ist das Lehren und Lernen mit digitalen Medien und Werkzeugen eine Chance für die qualitative Weiterentwicklung des Unterrichts.“ (KMK 2017, 13) Sicherlich ist der hier verwendete Wissensbegriff konsensfähig; dabei nicht klar ist in dieser Passage allerdings der Anschluss des letzten Satzes („Auf diese Weise…“). Unklar bleibt auch, wo so verstandenes Wissen herkommt, denn auch die KMK sieht Lehrkräfte in erster Linie als Lernbegleiter eigenverantwortlichen Lernens: „Mit zunehmender Digitalisierung entwickelt sich auch die Rolle der Lehrkräfte weiter. Die lernbegleitenden Funktionen der Lehrkräfte gewinnen an Gewicht“, so das Strategiepapier von 2016 (KMK 2017, 13). Das Ergänzungspapier ergänzt: „Im digital gestützten Unterricht gilt es zudem, eine Lehr- und Lernkultur zu entwickeln, die selbstgesteuertes Lernen fördert und in der die Lehrkräfte Lernprozesse vermehrt flankierend begleiten“ (KMK 2021, 21; s. ebd. 29).
„Dies setzt aber, wie die Ausführungen Drägers und Müller-Eiselts zeigen, voraus, dass [die Lehrpersonen] ihre ursprüngliche zentrale Funktion als Vermittler an das Medium abgegeben haben und nun nur noch kompensatorisch tätig werden. Dass dies durchaus (zumindest von manchen) gewollt ist, belegen Entwürfe einer totalen Digitalisierung von Schule […], die davon ausgehen, dass Lernprogramme den Schülerinnen und Schülern passendere Lernangebote machen, als Lehrkräfte dies tun könnten“, schreibt Dammer (2022, 28) und betont, derartige Vorstellungen stammten (vorwiegend) von Nicht-Pädagog*innen: „Gelten also Betriebswirte und Systementwickler als maßgebliche Experten für schulische Innovationsprozesse? Oder, um es zugespitzt zu konkretisieren: Würde eine Chirurgin sich von einem Marketingfachmann vorschreiben lassen, wie sie ihre Profession aufzufassen und auszuüben hat?
Angesichts solcher bizarren Verwerfungen erscheint es angebracht, noch einmal daran zu erinnern, wozu Lehrkräfte als Personen gut sind“ (ebd.) – und konkretisiert dies: Gerade im Zuge der Digitalisierung und des individualisierenden Lernens werde die Bedeutung der Lehrperson als Bezugsperson und Dialogpartner*in nicht schwinden, denn nur in persönlicher Beziehung und Dialog lasse sich kritisches Denken aufbauen. Immer noch bestünden demnach die Kernaufgaben einer Lehrperson im „Dozieren [nicht zu verwechseln mit Frontalunterricht], Anleiten und Philosophieren“ (Dammer 2022, 29-30; ebd. 13). Das ist mehr als ein reiner Lerncoach, ein Konzept, das nicht nur von Dammer kritisiert wird (s. Scharrer 2018; Leiner 2019; Leipner 2019, 12-13; Wolf & Thiersch 2021, 5). Zugespitzt formuliert Zierer (2021, 389): „Insofern ist auch das – durch die Digitalisierung befeuerte – Gerede vom Lernbegleiter und vom überzogenen individualisierten Lernen wenig hilfreich, vielmehr unsinnig: Lernende brauchen nicht nur einen „guide on the side“. Sie brauchen auch und in jeder Phase ihres Lebens einen „change agent“, wie es John Hattie nennt: einen Menschen, der ihnen den Spiegel vorhält, der sie ermutigt und die Herausforderung setzt, wenn sie nicht an sich glauben, der sie aber auch bremst, wenn sie falsche Erwartungen an sich setzen.“
Chancengleichheit
Dabei machen Dräger & Müller-Eiselt (2015) ein großes „Heilsversprechen“ (Dochhorn 2016, 66): Es besteht in einer Demokratisierung von Bildung, in Chancengleichheit und individueller Förderung. Ohne den Aspekt der Demokratisierung aufzunehmen, sieht auch die KMK die Digitalisierung als Weg zu mehr individueller Förderung und Chancengleichheit (KMK 2017, 8, 25, 32; 2021, 5, 9-12; vgl. Bach 2023, 13-15). Dammer bemerkt dazu, es sei „die Behauptung, durch den Einsatz digitaler Medien ließe sich die Chancengerechtigkeit erhöhen, skeptisch zu beurteilen. Bisher gibt es keine einschlägigen Belege dafür, sondern eher für das Gegenteil. Gesellschaftlich entstandene Probleme können nicht allein technisch gelöst werden.“ (Dammer 2022, 4; s. ebd. 13, 20) Tatsächlich sind bereits Drägers & Müller-Eiselts Visionen bald nach ihrem Erscheinen sehr skeptisch beurteilt worden (Dochhorn 2016, Swertz 2017). Auch das Positionspapier zur KMK-Strategie (Braun et al. 2021) ist da wenig optimistisch. Warten wir ab, wie sich die Dinge entwickeln.
Treibende Kräfte
Bei alledem es ist kein Geheimnis, dass „Ökonomie und Bildungspolitik bei der Digitalisierung eine problematische Liaison eingehen, deren gemeinsames Drittes Daten sind, einerseits als Grundlage für Steuerung, andererseits als Ware.“ (Dammer 2022, 37). Seit dem „PISA-Schock“ im Jahr 2001 haben verschiedene Stiftungen wie z.B. die Bertelsmann-Stiftung und andere Lobbygruppen wie z.B. der IT-Verband Bitkom, der mehr als 2600 Unternehmen der digitalen Wirtschaft, unter ihnen nahezu alle Global Player, vertritt, erfolgreich Einfluss auf unser Bildungssystem genommen (s. Lohmann 2007; Langer 2012, 166; Dochhorn 2016, 66; Swertz 2017, 4-6; Förschler 2018; Scharrer 2018; Hartong 2019, 15-17; Macgilchrist 2019, 19-20; Hartong 2020; Hartong & Förschler 2020, 420; 427; Förschler 2021; Simanowski 2021, 8; 31-37, ferner: https://www.lobbycontrol.de/lobbyismus-an-schulen/lobbyismus-an-schulen-neue-broschuere-zeigt-was-zu-tun-ist-42617/, 13.04.2023). Diese Einflussnahme wurde im Jahr 2016 besonders deutlich im Rahmen der „Stakeholder-Konferenz, Digitaler Wandel in der Bildung: Perspektiven für Deutschland“ von KMK und BMBF, bei der neben Vertreter*innen der GEW und des BIBB auch Bitkom, Initiative D21, Deutsche Telekom Stiftung, bettermarks, KLETT GmbH um ihre Einschätzung gebeten wurden und so aktiv Einfluss auf die entstehenden Strategiepapiere nehmen konnten. (Förschler 2018, 40)
Auffällig ist dabei, dass der Bund deutlich aktiver als viele Bundesländer und als treibender Akteur einer Digitalisierungsagenda (z.B. Digitalpakt) auftritt. „Im Diskurs wird dies unter anderem von Seiten der EdTech-Industrie und IT-Wirtschaft auch explizit eingefordert, mit der Begründung, dass das föderale System und dessen als marktfeindlich angesehenen Strukturen zu schwerfällig seien und die dringend „notwendigen“ Transformationen behindern würden.“ (Förschler 2018, 42; s. Förschler 2021, 329) Natürlich wittern hier große IT-Konzerne und andere nicht staatliche Akteure ein milliardenschweres Geschäft. Zu den Dimensionen: 2019 betrug der weltweite EdTech-Umsatz 1,1 Milliarden US-Dollar; Schätzungen gehen von einem Anstieg auf 6 Milliarden US$ 2024 und 25,7 Milliarden US$ 2030 aus (Nemorin et al. 2023, 48). Nach Förschler (2018, 48) sind die Interessen klar: „Ein gemeinsamer Tenor dieser nicht-staatlichen Akteure ist die Notwendigkeit, einen Markt und Strukturen für digitale Bildung in Deutschland zu schaffen, damit sich Anbieter etablieren und die bestmöglichen Lösungen und Produkte zeitnah zur Verfügung stellen können. Die Organisation LobbyControl spricht in diesem Zusammenhang sogar davon, dass sich die Bildungsministerien – gerade bezüglich des Themas Digitalisierung – von „Konzernen vor sich hertreiben [lassen], anstatt demokratische Prozesse zum Umgang mit Digitalisierungsanforderungen an Schulen zu organisieren.““ Entsprechend fordert das Positionspapier (Braun et al. 2021) zumindest stärkere Transparenz.
„Mindsets“
Wurden länger mehr oder weniger unreflektiert in erster Linie die Chancen und Potenziale digitaler Medien propagiert (z.B. Dräger & Müller-Eiselt 2015; KMK 2017), so wird nun in nichtoffiziellen wie offiziellen Verlautbarungen offen die zutiefst unethische Forderung nach einer Änderung von Einstellungen, Haltungen und Werten erhoben. Es beginnt mit den Eltern. So heißt es im Strategiepapier (KMK 2017, 23): „Es ist ein gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit des Erwerbs geeigneter „Kompetenzen in der digitalen Welt“ anzustreben, damit Eltern dies in der Schule nicht nur akzeptieren, sondern auch aktiv unterstützen, da es kein Elternrecht als Abwehrrecht gegenüber staatlichen Befugnissen wie Lehr- und Bildungspläne gibt.“ Abgesehen von dem zweifelhaften Begründungszusammenhang dieses Satzes wäre angesichts der oben skizzierten potentiellen Erfassung der Persönlichkeit der Kinder von Elternseite zu prüfen, inwieweit die hier getätigten Aussagen tatsächlich so stehen bleiben können.
Doch bleibt es nicht bei den Eltern: Um 2021 erscheint auf der Internetseite eines EdTech-Unternehmens folgender Satz: „Um eine alternative Lernkultur an einer Schule umzusetzen, müssen wir sowohl Schülerinnen und Schüler auf ein selbständiges Lernen vorbereiten, als auch die Haltung und Werte der Lehrkräfte ändern.” (https://scobees.com/leitfaden/, 12.04.2023) Wer ist „wir“? „Müssen wir“ das? Welche Interessen stehen dahinter? Wie kommen „wir“ dazu, einen derart apodiktischen Satz zu formulieren? Welche „Haltung und Werte“ haben „wir“ eigentlich? Mit den nun folgenden Bemerkungen wollen wir natürlich nicht implizieren, die SWK (2022) oder das MSB NRW (2022) hätten sich in den Dienst von Lobbyinteressen gestellt.
Wie eingangs erwähnt, gab der PhV NRW Dammers Gutachten u.a. aus Anlass des nordrhein-westfälischen Impulspapieres II (MSB NRW 2022) in Auftrag. Und dort finden wir (11) erstmals von offizieller Seite die Einforderung „veränderte[r] Haltungen und Mindsets“ der Lehrkräfte. Dazu Dammer (2022, 26): „Eine positive Einstellung der Digitalisierung gegenüber ist sicherlich eine wesentliche Voraussetzung für ihr Gelingen, sie normativ einzufordern ist aber sowohl in sachlicher als auch in ethischer Hinsicht fragwürdig: Sachlich insofern, als aus psychologischen, aber auch aus systemischen Gründen dem Versuch, Einstellungen von außen zu verändern, Grenzen gesetzt sind; ethisch wäre zu klären, mit welchem Recht jemand beanspruchen kann, die Einstellungen eines anderen Menschen – und sei es in einem institutionellen Abhängigkeitsverhältnis – verändern zu wollen.“
Etwa zur gleichen Zeit wie Dammer meldet sich auch die SWK mit ihren Empfehlungen zu Wort (SWK 2022). Zitieren wir: „Die Entwicklung und Umsetzung lernwirksamer mediengestützter Unterrichtsangebote setzen voraus, dass Lehrkräfte über die notwendigen professionellen Kompetenzen verfügen und diese einbringen. Diese umfassen neben technischem auch hinreichendes pädagogisches, diagnostisches, fachliches und fachdidaktisches Wissen sowie entsprechende motivationale Orientierungen und Werthaltungen (z. B. positive Überzeugungen hinsichtlich der Nützlichkeit digitaler Medien für Lehr-Lernprozesse).“ (50-51) Und mit Blick auf die Ausbildung: „Neben diesen, auf das Professionswissen orientierten Kompetenzen benötigen Lehrkräfte auch die entsprechenden Überzeugungen und motivationalen Orientierungen, um fachdidaktische Ziele durch digital gestützten Unterricht erreichen zu können (u. a. die Überzeugung, die dazu nötigen Fähigkeiten zu besitzen).“ (111) Schließlich: „Ein breites Kompetenzverständnis sollte leitend sein, das kognitive, motivationale und einstellungsbezogene Aspekte umfasst.“ (120) Was hier unter dem Etikett der Wissenschaftlichkeit daherkommt, ist nichts anderes als ein Eingriff in die Persönlichkeit. Mit welchem Recht maßen sich diese Leute einen derartigen Eingriff an? Angesichts dieser moralischen Selbstdiskreditierung muss sich jedes Mitglied dieser Kommission fragen lassen: Wie haben Sie’s mit dem Grundgesetz? Welche „Werthaltungen“, welches Menschenbild haben Sie eigentlich? Egal, wie wir als Lehrpersonen zu Fragen der Digitalisierung stehen: In einer demokratischen Gesellschaft hat die Vorgabe einer Einstellungs- und Werteänderung keinen Platz.
Der Eindruck entsteht, dass es darum geht, Lehrkräfte auf Linie zu trimmen. Dies beginnt bei der Ausbildung. So heißt es bereits im Strategiepapier (KMK 2017, 26): „Lehramtsstudierende und (angehende) Lehrkräfte müssen [!] die didaktischen und methodischen Chancen digitaler Medien für den Lehr- und Lernprozess erkennen und nutzen können.“ Soll also kritisches Denken in einem Universitätsstudium keine Rolle mehr spielen? Andere mögen entscheiden, inwieweit hier der Versuch eines unzulässigen Eingriffs in die universitäre Lehrfreiheit vorliegen könnte. Die SWK (2022, 144) bemängelt darüber hinaus: „Dennoch weist mehr als jede zehnte Lehrkraft eine skeptische oder ablehnende Haltung auf, was […] zur Herausforderung werden kann. Dies muss bereits in der Lehrkräfteausbildung und auch im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten konstruktiv aufgegriffen werden.“ Inwieweit „konstruktiv aufgegriffen“ ein Euphemismus für „bearbeiten“ darstellen mag, ist eine Frage der Interpretation.
Bildung
Grundsätzlich ist die Frage, was wir im 21. Jh. unter Bildung verstehen wollen. Dammer (2022, 31-32) betont die unterschiedlichen, diskursabhängigen Dimensionen des Bildungsbegriffes. Mit Verweis auf das Ergänzungspapier (KMK 2021, 4-5) formuliert er scharf: „Im Digitalisierungsdiskurs wird Bildung klar mit einem technisch-ökonomischen Vorzeichen versehen, dem dann politisch konsensfähige Intentionen wie Individualitätsentwicklung und die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit untergeschoben werden.“ Technisch-ökonomisch verstanden sei Bildung in erster Linie die Anpassung an wirtschaftliche Imperative. „Damit fallen […] drei wesentliche Momente des klassischen Bildungsbegriffs unter den Tisch, nämlich die Offenheit und damit Unkalkulierbarkeit von Bildung, ihre Orientierung an der perfectibilité des Menschen, wie Rousseau es nannte, und die Möglichkeit, durch individuelle Reflexion und Taten gesellschaftliche Tendenzen infrage zu stellen.“ (s. Langer 2012, 167) Ohne nun die Frage eines Bildungsbegriffes weiter zu vertiefen, lässt sich festhalten, dass in diesem Sinne verstandene Bildung und Konditionierung sich ausschließen.
Zu betonen ist auch, dass die geläufige Bezeichnung „digitale Bildung“ durchaus fragwürdig ist, denn Bildung ist nicht digital, sondern passiert im Kopf. Nach Dammer (2022, 7) ebenso fraglich, geradezu „ontologisch unsinnig“ sei der Begriff der „digitalen Welt“, denn ihm korrespondiere „keine außersprachliche Wirklichkeit, weswegen es sinnvoll ist, zwischen dem Diskurs über Digitalisierung, dem die „digitale Welt“ zuzuordnen wäre, und dem realen Phänomen der Digitalisierung zu unterscheiden.“ Nicht zuletzt ist zu fragen, ob die „digitale Welt“ nicht eigentlich ein repräsentionales Phänomen ist, das natürlich durch Weltdeutungen wiederum die Welt selbst prägt.
Grundsätzlich mag man diskutieren, ob Friedrich Maier (2022, 218) nicht richtig liegen könnte: „Niemals war Bildung […] so sehr gefordert wie künftig in Zeiten einer totalitären Digitalität.“ (s. Simanowski 2021, 22-27) Und sinnstiftende Zugänge zu Welten eröffnen sich nicht ausschließlich über das Digitale.
Menschenbild
In diesem Zusammenhang zentral ist das Problem des Menschenbildes, das hinter Vermessung, Optimierung und Steuerung stecken mag. Bereits die Entwürfe in der Bertelsmann-Bildungsbibel (Dräger & Müller-Eiselt 2015) sind vereinzelt als hochproblematisch in Hinblick auf die Frage der Mündigkeit charakterisiert worden (z.B. Swertz 2017, 6-7). Jan Dochhorn (2016, 67) spitzt zu: „„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz hat etwas mit dem herkömmlichen Bildungsideal zu tun, insofern er wie dieses auf den Menschen als Persönlichkeit hinausläuft. Wer vor allem den kooperationswilligen WeQ-Typen propagiert, hat meines Erachtens anderes im Sinn.“ (s. Tangens 2020) Nun bestätigt die KMK (2017, 10): „Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule besteht im Kern darin, Schülerinnen und Schüler angemessen auf das Leben in der derzeitigen und künftigen Gesellschaft vorzubereiten und sie zu einer aktiven und verantwortlichen Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu befähigen.“ In all seinen Facetten ist dieser Satz sicherlich konsensfähig. Zu diskutieren wäre allerdings, ob die Strategie tatsächlich dieses Ziel zu erreichen vermag, oder ob sie nicht Gefahr läuft, in die von Dochhorn angedeutete Richtung zu weisen. Eine solche Gefahr sieht zumindest Dammer (2022, 5): „Der verengten Orientierung der Digitalisierungsstrategie am technisch-ökonomischen Fortschritt liegt ein problematisches Menschenbild zugrunde, das den Menschen implizit nicht mehr zum Subjekt, sondern zum Objekt von Technik erklärt, was aus einer pädagogischen und bildungstheoretischen Perspektive abzulehnen ist.“ Abzulehnen sei vor diesem Hintergrund insbesondere eine Reduzierung des Menschen auf seine Daten wie auch „das funktionale Menschenbild, für das der Geist datafizierbarer Output ist“ (Dammer 2022, 39; s. ebd. 13). Ähnliche Probleme sehen auch andere (z.B. Tangens 2020; Leineweber & Wunder 2021, 24; Wolf & Thiersch 2021, 2; Bettinger et al. 2022, i-iii; Maier 2022, 216-217; Elfert 2023; Nemorin et al. 2023, 48).
Wirtschaft
Vom Menschenbild zur Ökonomie, einem Aspekt, der bei alledem zu kurz zu kommen scheint. Eine durchgängige Begründung für die absolute Digitalisierung des Unterrichts in den Papieren der KMK (2017; 2021) und der SWK (2021; 2022) sind die geänderten Anforderungen der Arbeitswelt. Zudem kritisieren Dammer und andere (s.o.) gerade die Macht „wirtschaftlicher Imperative“. Werfen wir einen sehr schnellen Blick Richtung Volkswirtschaftslehre.Wachstumsökonomisch erscheint Bildung als eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum (Wößmann 2017, 38-41): „Bildung wirkt, indem sie neue Technologien generiert und deren Verbreitung erleichtert. Letztlich hängt die langfristige Wachstumsrate einer Volkswirtschaft vom technologischen Fortschritt ab. Verbesserungen in der Technologie, mit der Produktionsfaktoren in Output umgewandelt werden […], beruhen auf Produkt- und Prozessinnovationen. […] Dieser Vorgang wird durch die zugrundeliegenden Erfindungen der Menschen befeuert, die aus deren Wissen und Fähigkeiten hervorgehen.“ (Wößmann 2017, 38) Das bedeutet, Anpassung und Optimierung an vorgegebenen Strukturen stimulieren ganz sicher nicht die Innovationsfähigkeit, die so nötig ist (s. Dutz & Paech 2021, 139). Dafür braucht es eigenständig denkende Menschen.
Aus diesem Grund erscheint auch Steuerung ökonomisch fragwürdig. So postuliert eine (ältere) Studie, dass weniger Bildungsregulierung bessere Ergebnisse erzielte und v.a. ein zugleich höheres nationales Wohlstandsniveau (Enste & Wicher 2012). Oder umgekehrt: „Ein hohes Regulierungsniveau in diesen Bereichen geht im Regelfall mit einem geringeren Wohlstandsniveau einher.“ (Enste & Wicher 2012, 410) Sofern Steuerung und Regulierung Schnittmengen aufweisen, lässt dies die oben skizzierten Vorstellungen eines kompletten „Monitorings“ des Lehrens und Lernens als ökonomisch problematisch erscheinen. Insgesamt sind hier weitere interdisziplinäre Forschungen und Überlegungen angebracht.
Schluss?
In diesem kurzen Beitrag haben wir versucht, uns „mit Ergebnissen aktueller Forschung zur Bildung in der digitalen Welt auseinanderzusetzen“ (KMK 2017, 27). Nun mag man uns eine gewisse Einseitigkeit, vorwerfen: Natürlich existiert in den Bildungs- und anderen Wissenschaften ein kaum überschaubares Spektrum, das von weitgehender Ablehnung bis zu unbedingter Befürwortung „digitaler Bildung“ reicht. Der Vorwurf der Einseitigkeit ist allerdings auch in anderer Richtung erhoben worden (s.o.). So konstatiert ein Positionspapier (Braun et al. 2021) zu den Empfehlungen der SWK (2021): „Die tatsächliche Vielfalt an Forschungsbefunden zur Digitalisierung in Bildung bleibt […] systematisch unberücksichtigt. Dazu zählen, um nur einige Beispiele zu nennen, Beiträge aus der Medienpädagogik, der Bildungsinformatik, der kulturellen und politischen Bildung, der Medienethik, der Kindergesundheitsforschung, der Techniksoziologie oder der Datafizierungsforschung“. Im Klartext ist das nichts Geringeres als der Vorwurf wissenschaftlicher Unredlichkeit. Die SWK „verkennt […] die tatsächliche wissenschaftliche Umstrittenheit dieser wachsenden, v. a. quantitativen Vermessung von ‚Bildungsprozessen‘, etwa, weil hiermit zahlreiche, empirisch inzwischen umfassend erforschte Folgen und Nebenwirkungen einhergehen, die die Idee von Bildung nicht nur verengen, sondern Bildungsprozessen auch nachhaltig schaden können.“ (Braun et al. 2021; s. schon Langer 2012, 173) Ein winziger Ausschnitt an Forschungen u.a. ist hier abgebildet (s. Hartong 2019, 21; Hartong & Förschler 2020, 419-420; Simanowski 2021, 80-81; Bach 2023, 25-26; Proske et al. 2023a, 11-18; außerdem: Hoffmann-Ocon & Horlacher 2015, 172).
Vielleicht wäre die KMK besser beraten, wenn sich das Spektrum an wissenschaftlichen Positionen in der personellen Zusammensetzung der SWK spiegelte.
Das genannte Spektrum an Haltungen findet sich natürlich auch bei uns, den Lehrpersonen (wie auch Schüler*innen: Thiersch & Wolf 2023). Vor diesem Hintergrund ist die etwas pauschale Einteilung in „Digitalisierungsgegner“ und „Befürworter“ mittlerweile längst überholt (Dichotomie auch bei Zierer 2021, 377; Dammer 2022, 7. Muuß-Merholz 2019 konstatiert geradezu eine Spaltung). Nur wenige werden ernsthaft digitale Medien aus den Schulen verbannen wollen. Auch wir, die Autoren, schätzen die vielfältigen Potentiale – nicht zuletzt sind alle unten mit einer Website versehenen Texte als Open Access verfügbar. Und natürlich setzen auch wir Digitales (hoffentlich) gewinnbringend in unserem Unterricht ein. Etikettierungen wie „Beharrungspädagogik“ (vgl. Simanowski 2021 19) oder Lamentieren über die (angebliche) „Reserviertheit“ der Lehrkräfte (z.B. SWK 2021, 4, 17; SWK 2022, 113-114) führen also nicht weiter, sind nur Ausdruck diskursiver Macht und argumentativer Ohnmacht.
Was führt nun weiter? Wiederholt wird unterschieden in Lernen über digitale Medien und Lernen mit digitalen Medien (Scharrer 2018; 2019; Simanowski 2021, 30; Kammerl & Dertinger 2022, 135; Swertz 2022, 56-57; vgl. SWK 2022, 14). In diesem Sinne ist ein erster Konsens kaum ernsthaft infrage zu stellen: Das Lernen über digitale Medien, also über das Funktionieren von Algorithmen, von künstlicher Intelligenz ebenso wie Fragen digitaler Sucht, sozialer und politischer Auswirkungen, das Behandeln ethischer Fragestellungen usw. sind dringend nötig und haben an der Schule ihren Platz (Leiner 2019; Scharrer 2019; Simanowski 2021, 11-13; 21-22; 28-30; 63-73; Dümpelmann 2022; Swertz 2022, 49-54; s. Kornwachs & Stehr 2021, 34, 37; Hartogsohn & Vudka 2022).
Schwierig wird es mit dem zweiten Aspekt, denn hier stehen wir vor dem (alten) ethischen Problem der Ambivalenz technischer Entwicklungen (Hans Jonas). Wie weit soll das Lernen mit Medien gehen? Hinsichtlich des Einzugs künstlicher Intelligenz in die Klassenräume werden Blessing Funmi & Xusheng (2020) nicht müde zu betonen, „teachers should activate their thinking domain and they should not be an observer“ (55). Daraus folgt ganz im Sinne Dammers, dass wir einen Diskurs brauchen, dass auch wir uns als Lehrpersonen in einem solchen Diskurs mit unseren verschiedenen Positionen artikulieren, auch miteinander diskutieren sollten. Vor allem bedeutet dies, dass man mehr mit uns statt nur über uns spricht. Und Simanowski (2021, 68) betont, „man sollte aufhören, den Lehrern fortwährend ein falsches Gefühl der Unzulänglichkeit zu vermitteln, wie es allenthalben geschieht, selbst von höchster Stelle.“
Denn letztlich sind es grundlegende ethische, weit über die Schule hinausreichende Fragen. Einige davon haben wir im Verlauf dieses Textes gestellt oder Anknüpfung für Diskussionen vorgeschlagen. Grundsätzlich läuft alles auf die ethische Frage hinaus: Welches Menschenbild haben wir? Dazu kommen Fragen an uns Lehrpersonen: Welches Selbstverständnis haben wir, was ist unsere Sache? Wie viel Autonomie sind wir bereit, an Algorithmen abzugeben? Wo beginnt eine totale Steuerung – von Schüler*innen wie von Lehrer*innen? Dass wir uns im Bereich der Science, nicht der Fiction bewegen, sollte deutlich sein. Wenn wir das vielbeschworene Wort der Gestaltung des digitalen Wandels ernst nehmen wollen, sind zumindest Fatalismus, Schlafwandeln und das vielzitierte Wort der Alternativlosigkeit fehl am Platz. Und wenn es immer wieder heißt, die Digitalisierung müsse endlich auch in der Bildung gelingen, so müssen wir uns fragen, was genau eigentlich gelingen soll.
Wenn in Zukunft Lernprogramme die Aufgaben stellen, andere KI-unterstützte Programme diese lösen, … Jedenfalls versichern wir: Dieser Text ist von uns, nicht von einem Chatbot verfasst.
Teil I des Beitrags: Zur Digitalisierung von Schule (Teil I)
Der ganze Beitrag (15 Seiten) als PDF: Scharrer, Delarber: Zur Digitalisierung von Schule
Die zitierte Literatur als PDF: Scharrer, Delarber: Zur Digitalisierung von Schule (Lliteratur)