Veröffentlicht am 05.05.20

Warum Home-Schooling nichts mit Bildung zu tun hat

 

Ein Gastbeitrag von Amin Mirabi

 

Laut werden die Stimmen, wenn es um die Zukunft unserer Schülerinnen und Schüler geht. Gerade die Pandemie-Welle gibt den Anlass, Schule als die zentrale Bildungsinstitution unserer Bundesrepublik „neu“ zu denken – auch nach der Corona-Krise. Führt man sich Beiträge von hochrangigen Politikerinnen und Politikern zu Gemüte, gibt es durchweg keinen Zweifel daran, dass Deutschland in Sachen Digitalisierung in Schulen einen Nachholbedarf hat. Vermehrt höre ich Stimmen, die sagen, dass Schule auch von zu Hause aus stattfinden könne mit Plattformen wie „moodle“ oder diversen Videokonferenzen. Die gleichen Stimmen behaupten, dass es für echten Lernerfolg nur marginal einer pädagogischen Unterstützung der Lehrerin/des Lehrers bedürfe und diese lediglich Lernarrangements für Lernende schaffen sollen.

Bei aller gerechtfertigten Kritik an der mangelhaften digitalen Infrastruktur vor allem unserer Schulen, vergessen viele, was Schule als Bildungsinstitution eigentlich soll. Aus bildungstheoretischer Perspektive ist Schule nicht nur eine Hülse für Wissensvermittlung und Kompetenzerweiterung, um einen Modebegriff des 21. Jh. zu verwenden, sondern der Ort, an dem soziale, ethische und fundamentale Problemfragen beantwortet und beurteilt werden sollen, was eben nur in einem dialogischen Miteinander möglich ist. Für meine Fächer, Geschichte und Sozialwissenschaften, ist es von essentieller Bedeutung, dass ein lebendiger Austausch zwischen Schülerinnen und Schülern im Klassenraum stattfindet und nicht vor einer digitalen Oberfläche, auf der sich kaum Emotionen zeigen und sich keine gemeinsame kommunikative Dynamik ergibt. Auch in Fächern der Naturwissenschaften und Sprachen stelle ich es mir aus bildungstheoretischer Perspektive sehr schwer vor, Schule in Zukunft zunehmend von Digitalisierung und unechten Begegnungen dominieren zu lassen. Ich frage mich: Ist nicht wenigstens die Schule ein Ort der Entschleunigung und des dialogischen Miteinanders? Der Ort, an dem Kinder und Heranwachsende wenigstens für ein paar Stunden am Tag die Möglichkeit haben, dem ganzen Wahnsinn der beschleunigten Welt zu entkommen, in der zunehmend der Druck entsteht, dass die Klickzahlen auf Instagram wichtiger sind als der reale Austausch zwischen Freundinnen und Freunden auf den Schulhöfen. Natürlich sollen unsere Kinder für die digitale Zukunft fit und gewappnet sein, aber ich kann Ihnen versichern: Auch ohne Digitalisierung in Schulen wären unsere Kinder immer noch besser in der Lage, mit mobilen Endgeräten umzugehen als ihre Eltern oder manche Lehrerinnen und Lehrer. Skeptikerinnen und Skeptiker werden mir nun vorwerfen, dass Schule aber eben auch der Ort kritischer Überprüfung ist; der Ort also, an dem Kinder die Möglichkeit erhalten sollen, einen kritischen Blick auch auf die Digitalisierung zu werfen. Diesen Leuten bringe ich mein tiefstes Verständnis entgegen, doch ich habe das Gefühl, dass es in der Diskussion über Digitalisierung in Schulen nur sekundär um ihre kritische Überprüfung geht. Vielmehr geht es um einen Wettlauf mit anderen Staaten und dass unsere Kinder möglichst viel mit digitalen Endgeräten selbstständig arbeiten sollen. Die kritische Überprüfung im Dialog ist aber eine unverzichtbare Bedingung für Bildungsprozesse, in denen das Gründe-Geben und das Nach-Gründen-Verlangen die oberste Priorität haben und nicht die zehn Kriterien guten Unterrichts. Es geht also im Wesentlichen darum, den blinden und unreflektierten Umgang mit Digitalisierung zu verhindern, statt dem Motto zu folgen: Hauptsache viele Tablets und Power Point Präsentationen nicht der inhaltlichen Sache, sondern des Hypes und des Wettbewerbes wegen.

Herkömmliche Schulbücher, ja auch die verpönte grüne Tafel, die ab und zu quietscht, wenn man sie auf- und abhebt, das sind Traditionen, die unsere Schülerinnen und Schüler kennenlernen sollten, um auch eine Kenntnis über die prae-digitalisierte Welt zu besitzen. Vergegenwärtigen wir uns für einen Augenblick das Buch, so erkennen wir darin sowohl eine jahrhundertelange Geschichte als auch die wichtige Erkenntnis, die uns der Schriftsteller Jorge Luis Borges zum Lesen mitteilte: „Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn“. In unserer globalen und schnelllebigen Welt sollten Schülerinnen und Schüler also das Menschsein erlernen und den Menschen erforschen, der von Emotion und Empathie geprägt ist; der es nötig hat, echte Kontakte zu knüpfen, ein mit Argumenten gestütztes Gespräch über eine vertiefte Problemfrage zu führen und analytische Texte verstehen zu lernen. Da bringt es nichts, ein auswendiggelerntes Referat mit PPP und toller Visualisierung über den Investiturstreit vorzustellen, ohne dabei die wesentlichen Primärquellen von Papst Urban VII und König Heinrich III gelesen und analysiert zu haben; denn erst durch das Studieren dieser Quellen entsteht die Erkenntnis darüber, was der Gang nach Canossa wirklich bedeutete und was für Machtverhältnisse damals wirkten.

Was ich momentan erlebe, sowohl in Schule als auch in der Gesellschaft, ist der immer größer werdende Einfluss von Instagram und Co., der uns von unserem Menschsein entfremdet und aus uns unreflektierte Konsumenten macht, die abhängig von Like- und Klickzahlen sind. Doch die Schule als Bildungsinstitution sollte unsere Schülerinnen und Schüler auf das vorbereiten, was Leben bedeutet. Hier tauchen philosophische Fragen über den Sinn des Lebens auf; Fragen, die viel entscheidender sind, als das, was ich mir morgen auf Amazon bestellen werde oder eine Studie über Mentimeter zu erstellen. Fragen, die davon handeln, wie wir unser Miteinander, unsere Nächstenliebe, unseren Altruismus und nicht unseren Egoismus fördern. Das sind entscheidende Fragen, die nicht nur Platon oder buddhistische Mönche berührt haben, sondern Fragen, die damals, heute und für alle Ewigkeit gelten, weil sie dem Leben Sinn verleihen. Denn erst wenn Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhalten, diese fundamentalen Fragen verstehen zu lernen und kriteriengeleitet zu beurteilen, kann eine Gesellschaft in ihrer demokratischen Kraft gedeihen. All das kann aber nur vonstattengehen, wenn Schule Schule bleibt und sie nicht zu einer weiteren Plattform mit Hyperlink wird.

Mein Appell: Lasst unseren Schülerinnen und Schüler ihr Grundrecht auf Bildung und lasst sie bei streng eingehaltenen Hygieneregeln zurück in die Schule, um schwerwiegende Folgeschäden zu vermeiden. Um nur einen der bedeutenden Folgeschäden zu nennen: Die großen Verlierer dieser Pandemie-Welle werden die Kinder aus bildungsfernen Schichten sein. Pläne, wie Schülerinnen und Schüler gestaffelt und tageweise – vielleicht auch samstags – zu unterrichten oder auch das Sommerferienkonzept zu überdenken (der klassische Sommerurlaub fällt aller Voraussicht nach sowieso flach), sind ganz einfach umzusetzen – sie erfordern gute Planung, Geduld und vor allem bildungstheoretische Absichten.

In diesem Sinne sapere aude und juten Tach!