Veröffentlicht am 19.08.20

Vor CORONA: 2. Regionalgruppentreffen Rhein/Ruhr – Mitgliederzahlen steigen…

„Rückgrat zeigen – Handlungsspielräume nutzen!“, so lautete die Überschrift des 2. GBW-Regionalgruppentreffens Rhein/Ruhr, das nach einer beeindruckend einhelligen Bestandsaufnahme bildungspolitischer Fehlentwicklungen durch die Teilnehmenden des 1. Treffens („Free the hamster!“, Oktober 2019) nun direkt praktische Schwerpunkte setzte.
Denn im Anschluss an das Sichtbarwerden von Zusammenhängen und Hintergründen unserer belastenden Erfahrungen im Alltag des Bildungssystems stellt sich zwangsläufig die Frage, wie es nun weitergehen soll und was konkret, auch im Kleinen, getan werden kann. Es zeigte sich, dass allein das gemeinsame Nachdenken über diese Frage schon bestärkend wirkte, ganz zu schweigen von den praktischen Handlungsalternativen, die im Laufe des Tages von den Teilnehmenden zusammengetragen wurden. Doch der Reihe nach…

Am 8. Februar 2020 trafen sich erneut 30 Interessierte aus den unterschiedlichsten Bereichen des Bildungssystems in den Räumlichkeiten der „Alten Feuerwache“ im Zentrum von Köln. Neben vielen bekannten Gesichtern vom 1. Treffen, zeigten vor allem auch die etwa 10 neu hinzustoßenden Kolleginnen und Kollegen, dass Interesse am kritischen Hinterfragen des bildungspolitischen Reformeifers der letzten Jahrzehnte besteht. Die Regionalgruppe wächst…

Gemeinsam stehen bleiben und Rückgrat zeigen

Der Tag begann mit einem fulminanten Feuerwerk an Assoziationen und Perspektiven, die im Rahmen eines Impulsvortrags nicht nur einen weiten theoretischen Bogen über die Thematik spannten, sondern den Teilnehmenden das Vorhaben des Tages auch ganz praktisch und auch körperlich erfahrbar vor Augen führten. Was bedeutet es eigentlich, stehen zu bleiben? Wie fühlt es sich an, nicht zurück zu weichen, sich aufzurichten, Rückgrat zu zeigen? Dass es im ersten Moment vielleicht seltsam anmutete, einfach nur im Raum zu stehen, mit den Füßen festen Kontakt zum Boden zu suchen, Wurzeln zu schlagen und zu wachsen, tat der entstehenden besonderen Atmosphäre in diesem Augenblick keinen Abbruch. Es offenbarte vielmehr, wie ungewohnt uns diese innere Haltung ist und wie schwierig es ist, sie tatsächlich einmal sicher und überzeugend einzunehmen. Doch das kurze Experiment zeigte ebenfalls: Auch Rückgrat zeigen, kann man lernen… und zusammen kann es sogar Spaß machen!

Lehrerkräfte im Fokus von Schulentwicklern und Change-Managern

Im folgenden Kurzvortrag wurde es dann doch wieder etwas theoretischer. Zur Vorbereitung auf den gemeinsamen Austausch in den kleinen Gesprächsrunden wurde das Thema „Widerstand von Lehrkräften gegen Schulreformen“ aus der Sicht der Change Manager, Schulentwickler, Bildungsinnovatoren usw. in den Blick genommen.
Die Offenheit und mitunter auch Dreistigkeit, mit der in der zitierten einschlägigen Schulentwicklungs- und Change-Literatur über Beweggründe und Ursprünge widerständigen Handelns von z.B. Lehrkräften geschrieben wird, überraschte nicht wenige Kolleginnen und Kollegen. Warum also verwehren sich laut dieser Autoren Menschen gegen bestimmte Entwicklungen und Reformen im Bildungssystem? Aus Sicht der Change Manager und Schulentwickler liegt die Antwort auf der Hand: Aus Angst, aus Überforderung oder auch aufgrund eines überkommenen Berufsverständnisses. Insbesondere „Lehrkräfte Ü40“ hätten einfach nicht gelernt, mit den neuen Herausforderungen ihres Berufsalltags zurechtzukommen. Die Empörung darüber, dass im Bildungssystem arbeitende Menschen im Rahmen dieser Literatur als zu verändernde Objekte adressiert werden, wich im weiteren Verlauf des Vortrags einem zunehmend ungläubigen Lachen.

Entsprechend lebhaft und motiviert erfolgte anschließend die Arbeit in den Gesprächsrunden zum Thema Handlungsalternativen, deren Ergebnisse zusammengetragen wurden und noch in einem weiteren Beitrag auf der Homepage der GBW publiziert werden.

Zur Neoliberalisierung des Bildungsbegriffs

Nach einem gemeinsamen Mittagessen im Restaurant der „Alten Feuerwache“, das dieses Mal als üppiges Buffet organisiert war, wurde anknüpfend an das erste Regionalgruppentreffen noch einmal die zentrale Ideologie der wichtigsten Programmschrift der Bildungsreformen seit Mitte der 90er Jahre herausgearbeitet, der so genannten „Denkschrift NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“. Ausgehend von dem von Dieter Michels 2005 publizierten Artikel „So fing es an: Zur Neoliberalisierung des Bildungsbegriffs“ wurde deutlich, dass die von der Regionalgruppe diagnostizierten Fehlentwicklungen und Probleme und ja auch seit Jahren von den Mitgliedern der GBW zusammengetragenen Diagnosen bereits 1995 in der Denkschrift angebahnt wurden. So z.B. die Abwertung von Schülerinnen und Schülern zu Humankapital, das sich, um Schritt halten zu können, im lebenslangen Lernen an die ökonomischen und technischen Entwicklungen einer globalisierten Welt anzupassen habe. Vor dem Hintergrund dieses offensichtlich ökonomistisch-funktionalen „Unmenschenbildes“, das die Denkschrift durchzieht und bereits an vielen anderen Stellen als typisch neoliberales Gedankengut herausgearbeitet wurde, lag ein weiterer Aspekt des Vortrages auf der Untersuchung der in ihr verwendeten Sprache und zentralen Begriffe. Nach Michels handele es sich hier um „eine um das semantische Feld von ‚Lernen‘ zentrierte hochideologische Bedeutungs-Infrastruktur“, die den zögernden Leser in eine begriffliche Wohlfühlwolke hülle („ganzheitlich“, „sozial“, „differenziert“, „Zeit zum Wachsen geben“) und die zugrundeliegenden Ideologie verschleiere. Gerade weil in neoliberalen Change-Prozessen die Verwendung von besonders positiv klingenden Begriffen und Wortfeldern, die durch ihre „fraglose Plausibilität“ gegen Kritik immun zu sein scheinen (1), an Aktualität nichts verloren hat, lohnte der scharfsinnig vertiefende Blick des Vortrags. An dieser Stelle sei auch noch einmal auf die vor Kurzem publizierte Streitschrift von Marc Mattiesson „Die Geister, die wir rufen…“ – Bildungspolitik und soziale Spaltung“ verwiesen, in der der Zusammenhang von blumiger Sprache und Bildungsreformen mehrfach prägnant herausgearbeitet wird.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!

Der Tag endete mit einem Ausblick auf die mittlerweile 3. Time for Change? – Tagung: „Balsam für die Lehrerseele – Schule als Ort von Freiheit, Fachlichkeit und Dialog“, die im Mai 2020 in Köln stattfinden sollte und wie auch die weitere Arbeit der Regionalgruppe durch die CORONA-Situation verschoben werden musste. Außerdem erhielten die Anwesenden eine lesenswerte Zusammenfassung des Vortrags „Von der OECD zur neuen Unterrichtspraxis: Wie das Wirtschaftsdenken das Klassenzimmer erobert“, den die junge Soziologin Sigrid Hartong 2012 in Bamberg gehalten hat und der ebenfalls im 1. Treffen bereits angesprochen wurde. Der erläuternde Kommentar zur Zusammenfassung musste aus Krankheitsgründen der Referentin leider verschoben werden, doch was in „CORONA-Zeiten“ für den persönlichen Austausch kritischer Kolleginnen und Kollegen gilt, gilt auch für die vielversprechende Vertiefung dieses Vortrages: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Wir machen weiter…

„Free the hamster!“

Interessierte, die neu hinzustoßen und in den Verteiler aufgenommen werden möchten, sind herzlich eingeladen, sich unter gbw-regio-rheinruhr@bildung-wissen.eu ?zu melden.

1 Vgl. Begriffe wie: Kompetenz, Qualität, Individualität, Gemeinschaft, Eigenverantwortlichkeit, Transparenz, Evaluation usw.
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