Veröffentlicht am 09.06.20

Von Angesicht zu Angesicht

Endlich beginnt die überfällige Diskussion über die Nachteile der coronabedingten rein digitalen universitären Lehre (FAZ vom 23. Mai 2020). Viel zu lange haben Studenten und Dozenten dazu geschwiegen. Schulen und Kindergärten waren vor dem Lockdown zuletzt am Freitag, dem 13. März, geöffnet. An den meisten Hochschulen endete der Vorlesungsbetrieb des Wintersemesters dagegen bereits Anfang Februar. Inzwischen seit fast vier Monaten gab es keine Veranstaltungen mehr in den Hörsälen. Das Sommersemester fing verspätet an und ist damit mehrere Wochen zu kurz. Im vorauseilenden Gehorsam haben einige Universitäten auch gleich den Beginn des Wintersemesters in den November verschoben und damit zusätzlich das kommende Studiensemester um drei Wochen verkürzt. Seit Monaten sind die Universitätsgebäude für den Lehrbetrieb geschlossen. Auch der Zugang zu den Bibliotheken ist den meisten Studierenden verwehrt. Mit anderen Worten: Die Universitäten haben ein Hausverbot gegen ihre eigenen Studenten verhängt.

Dennoch begann ein gespenstischer Lehrbetrieb im Sommersemester. Die Hochschulen stellten ihren Dozenten Mikrofone, Kameras und Headsets zur Verfügung, neu lizenzierte Programme wie Zoom, Teams und andere waren schnell verbreitet, gefilmte Geistervorlesungen mit Livestream-Übertragungen im Learnweb ergänzten die technischen Möglichkeiten. Die Vorbereitung dieser digitalen Einheiten kosten die Dozenten viel Zeit. Jeder muss sich mit neuen Programmen vertraut machen und hat zugleich wegen der Kontaktbeschränkungen wenig Hilfe. Das Anleitungsblatt für kommentierte Powerpointpräsentationen ist sechs Seiten lang. Aber vieles funktioniert. Zumindest an meiner Fakultät finden sämtliche Vorlesungen statt. Selbst Arbeitsgemeinschaften und Seminare werden abgehalten. Die offiziellen Verlautbarungen gleichen denn auch reinen Erfolgsmeldungen. Die Universitätsleitungen klopfen sich selbst auf die Schulter und verkünden, die Digitalisierung der Vorlesungen sei ohne ernsthafte Einschränkungen möglich. Die universitäre Lehre sei nicht gefährdet, sondern sie laufe inhaltlich weitgehend normal ab. Bei einem Pressetermin erklärten ein Rektor und die zuständige Landesministerin, während des Rennens wechsele man nicht die Pferde. Es gebe inzwischen Vertrauen in die digitale Lehre, und das dürfe nicht enttäuscht werden. Sogar der persönliche Austausch zwischen Dozenten und Studenten sei möglich, hört man, denn Chatrooms oder Zoom-Konferenzen ermöglichten umfassend Gespräche in unterschiedlichen Gruppengrößen. Alles bestens also?

Nein. Wer behauptet, die rein digitale Lehre könne die Anwesenheitsuniversität auch nur annähernd ersetzen, geht von einem Leitbild aus, das die überkommene europäische Hochschultradition in ihrem Innersten erschüttert und gefährdet. Die Universität ist der Idee nach eine Lebensform und eine Begegnungsgemeinschaft zwischen Lehrenden und Lernenden. Das ist der Kern der mittelalterlichen „universitas“, und das müssen wir versuchen zu pflegen, so gut es immer möglich ist. Es geht nicht nur um die Vermittlung von Fachwissen. Dafür gibt es auch Bücher und Fernuniversitäten. Reine Wissensanhäufung ist noch keine Wissenschaft. Aber der persönliche Austausch auf der Grenze des Wissens, die gemeinsame Diskussion um die Gratwanderung zwischen Forschung und Lehre sind unverzichtbar für eine lebendige Universität. Dazu gehört das freie Gespräch im Hörsaal. Im Frage- und Antwortspiel nimmt manche Vorlesung eine unerwartete Wendung. Irrwege und Seitenpfade werden erkennbar, an die der Dozent ohne Rückfragen seiner Hörer vielleicht nie gedacht hätte. Auch tagesaktuelle Beispiele lassen sich nicht im vorab erstellten Film konservieren, können und müssen aber ganz anschaulich immer wieder neu die Lehrinhalte mit der Welt außerhalb des Hörsaals verbinden. Selbst gelegentliche Provokationen gehören dazu, ab und zu sogar ein Witz. Vielleicht wollen manche Dozenten gar nicht, dass jedes ihrer Worte dauerhaft in irgendwelchen Netzwerken verfügbar ist. Vieles ist eben nur live möglich. Der Hörsaal ist insoweit ein geschützter Raum. Die Studenten ihrerseits sollen sich ihr jeweiliges Fach kritisch und selbstbewusst erschließen und nicht nur Klausurwissen anhäufen. Professor heißt wörtlich „der Bekenner“. Mit seiner ganzen Persönlichkeit soll ein Dozent für das einstehen, was ihm wichtig ist. Das ist kaum möglich, wenn man zu Hause vor dem Mikrofon sitzt und Powerpointfolien kommentiert. Die digitale Lehre ist eine Notlösung, oft auch eine sinnvolle Ergänzung von Präsenzveranstaltungen, aber keinerlei Ersatz für eine lebendige Universität.

Das gilt vor allem für Seminare. Hier hat man es mit kleinen Gruppen zu tun und kennt die studentischen Teilnehmer oftmals persönlich. Die Diskussionen sind zum Glück kaum auf 30 Minuten im Anschluss an ein Referat zu begrenzen. Sie gehen in den Kaffeepausen weiter, vielleicht auch beim gemeinsamen Abendessen und gemütlichen Beisammensein. Ein halber Tag Freizeit zwischendurch, mal mit einer Bergwanderung, mal mit einem gemeinsamen Bad in der Nordsee, das ist die symphilosophische Geselligkeit, die es allem Gejammer über Massenuniversitäten zum Trotz immer und überall noch gibt. Genau diese Lebensart ermöglicht ganzheitliche Lebens- und Bildungserfahrungen, wie sie der Blick auf einen Computerbildschirm nie gewähren kann. Die Grenzen zwischen Universität und Freizeit, zwischen fachlich und privat können sich in den besten Momenten des Studiums auflösen. Das sind Glückserfahrungen und Freiräume, die jeder Hochschulangehörige mit aller Kraft verteidigen muss. Ein Podcast ist nicht in der Lage, so etwas zu vermitteln. Wer das Gegenteil behauptet, dem sind in Wahrheit die Studenten als Menschen und gleichrangige Gesprächspartner egal. Beispiel gefällig? Zu einem Rigorosumstermin erschienen die Doktoranden persönlich zur Prüfung, um ihren letzten Tag an der Universität angemessen zu begehen. Die Hälfte der Prüfer ließ sich aber per Videokonferenz zuschalten. Glaubt wirklich jemand, das sei gleichwertig?

Natürlich leben wir nicht auf einer einsamen Insel. Es gibt Zwänge, und die coronabedingten Einschränkungen gehören dazu. Es kann jedoch auch in Zeiten von Corona nicht ausschließlich um den absoluten Schutz vor einer angeblichen Überlastung des Gesundheitssystems gehen. Es gibt verschiedene Interessen und vor allem Grundrechte, die Freiräume zur Entfaltung erfordern. Dazu gehört auch unsere Lehrfreiheit, die ohne Studenten massiv eingeschränkt ist. Gerade an diesem Punkt müssen die Hochschulen den kritischen Geist der Studierenden anstacheln, vielleicht besonders an juristischen Fakultäten. Der Schutz des Lebens war noch nie ein absolutes Argument, sonst müsste man sofort das Autofahren verbieten. Wenn verschiedene Rechtspositionen aufeinanderprallen, muss man sie gegeneinander abwägen und darf nicht unanfechtbare Vetomöglichkeiten für Lemminge einräumen. Bei der Angemessenheit von Entscheidungen kommt es auch darauf an, wie groß die Bedrohungslage eigentlich ist. Wenn es den Studenten verwehrt ist, mit ihren Kommilitonen und mit ihren Dozenten über diese Dinge zu streiten, entmündigt man gerade diejenige gesellschaftliche Gruppe, die üblicherweise politisch wachsam ist, Mut zum offenen Wort besitzt und die im Übrigen von den Gesundheitsgefahren viel weniger betroffen ist als andere Menschen. Ein öffentlicher Diskurs über solche Fragen ist unerlässlich. Auch hierfür muss die Universität Raum geben, ganz handfest und wörtlich mit offenen Räumen.

Wenn jetzt Schulen und Kindergärten wieder starten, ist es völlig unverständlich, warum es Studierenden weiterhin verboten sein soll, die Universität zu betreten. Es gibt eine große Zahl großer Hörsäle, in denen man mit ausreichendem Abstand kleinere oder mittlere Veranstaltungen durchführen könnte. Angeblich soll es kein sachgerechtes Kriterium geben, nach dem man derartige Lehrformate festlegen kann. Dabei lassen sich solche Gesichtspunkte mit gutem Willen leicht ermitteln. Die Schulen haben das vorgemacht, die Kirchen mit ihren Sicherheitskonzepten für Gottesdienste ebenso. An meinem Hochschulort gibt es Messehallen mit über 5.000 m² Größe, Hörsäle mit vielen hundert Plätzen, allesamt mit mindestens vier Eingängen. Es gehört viel Bequemlichkeit dazu, sich zu verweigern und Abstandsregeln, Rotationsunterricht, Aufteilung in kleinere Gruppen oder anderes nicht einmal zu durchdenken. Doch genau damit kommen die Rektorate durch. Denn außerhalb der Universität stört solche Untätigkeit niemanden. Bei Schulen und Kindergärten machen Eltern Druck, auch um von ihren Betreuungslasten befreit zu werden. In anderen Bereichen geht es um Arbeitsplätze, Geld und Systemrelevanz, jetzt meist kritische Infrastruktur genannt. Aber die Bildung als solche, hier dem Anspruch nach sogar zweckfreie Bildung junger Erwachsener, hat keine Fürsprecher in einem Staat, der in Sonntagsreden Bildung zu seinem wertvollsten Rohstoff erklärt. Nach dem propagierten bloßen Unterrichtsmodell vermitteln wir Inhalte, jetzt eben digital, und damit kaufen wir uns von unserer menschlichen Verantwortung für im Idealfall bildungshungrige junge Menschen frei. Wir überlassen sie ihrem Home Office irgendwo im Kinderzimmer ihres Elternhauses oder im Einzimmerappartement ohne Garten und Mensabesuch. Die Folgen sieht man bei jeder Zoom-Konferenz. Die Studenten ziehen sich zurück, schalten nicht einmal ihre Kamera ein. Der Dozent sieht einen Monitor, statt mit Bildern der Teilnehmer gekachelt mit lauter schwarzen Feldern, auf denen zum Teil bloße Fantasienamen stehen. Davon liest man in den Erfolgsmeldungen über die Digitalisierung nie etwas.

In besonderem Maße tun mir die Erstsemester leid. Sie haben fast keine Möglichkeit, Kommilitonen kennenzulernen, das studentische Lebensgefühl wird ihnen verweigert. Auch das Selbststudium kann kaum funktionieren, wenn der Gang in die Bibliothek, um bestimmte Fragen in der Spezialliteratur nachzuarbeiten, verboten ist. Wenn die Universitäten sich wirklich weigern, vor der Einführung eines Impfstoffs zur Präsenzlehre zurückzukehren, können wir das kommende Wintersemester ebenfalls gleich abschreiben. Auf Hilfe von außen kann man nicht hoffen. Wenn es siebenmal so viele Rentner wie Studenten gibt, braucht das auch nicht zu verwundern. Doch es ist besonders wichtig, nicht nur den Dozenten, sondern vor allem den Studenten einen Weg zur Anwesenheitsuniversität zu zeigen. Für die Motivation aller universitärer Gruppen ist das unerlässlich. Ich war sehr froh, als die studentische Fachschaft meiner Fakultät vor einigen Tagen vehement die Rückkehr zur Präsenzlehre gefordert hat.

Wenn wir zu behaupten beginnen, universitäre Lehre sei auch rein digital möglich, machen wir uns selbst überflüssig. Ein deutschlandweit ausgestrahltes Video, das alle paar Jahre aktualisiert wird, würde dann ausreichen. Wir wollen aber gerade nicht nur Stoff vermitteln, sondern junge Menschen prägen und sie bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleiten. Das kann nur gelingen, wenn wir diese Menschen von Angesicht zu Angesicht sehen und erleben können. Es geht nicht darum, sie stromlinienförmig einzunorden. Aber Neugier und geistige Offenheit können und müssen wir immer wieder einfordern.
Von einem Zentrum für Hochschuldidaktik erhielt ich vor einigen Tagen einen Fragebogen zur rein digitalen Lehre. Die meisten Fragen waren eingeleitet mit Sätzen wie „An der digitalen Lehre gefällt mir…“ oder „Der Vorteil der digitalen Lehre liegt darin…“. Ganz am Ende kam endlich ein Freifeld: „Ein weiteres digitales Semester ist…“. Meine Antwort war klar: „… eine Katastrophe.“

Peter Oestmann lehrt Bürgerliches Recht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität Münster