Veröffentlicht am 02.02.21

Vernachlässigte pädagogische Grundfragen in der gegenwärtigen Krisen-Bildungspolitik

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Armin Bernhard

Die durch das Corona-Virus verschärfte gesellschaftliche Krise wirft eine Vielzahl päd­agogi­scher/bildungspolitischer Grundfragen auf, die von den bildungspolitischen Akteurinnen und Ak­­teuren bis hin zu Bündnis 90/Die Grünen und zur Linkspartei kaum thematisiert werden, ob­gleich jene existenzieller Natur sind. Die bildungspolitischen Diskussionen sind durch ei­ne denk­­­­­­wür­dige, hochproblematische sy­ste­matische Ver­engung ihrer Fragestellungen gekenn­zeich­net. Gleichzeitig orien­­­tiert sich Bildungspo­li­tik weitgehend an den Vorgaben der vor­herr­schen­den Krisenbewäl­ti­gungs­po­li­tik, ohne die damit verbundenen pädagogischen Grund­fra­gen zu stellen Vornehm­lich geht es um gesundheitspädagogische Aspekte, um die Auseinan­der­set­zung mit Hygie­ne­kon­­zepten im schu­lischen Kontext oder um Fragen der digitalen Aus­­stattung. Die psychische und geistige Gesundheit von Kindern und Jugendlichen spielt in den hygie­ne­po­li­tischen Debatten zur Bildung, wenn überhaupt, dann nur eine untergeord­nete Rolle. Nur am Ran­­­de werden die Bedenken von Pädiatrie und Pädagogik gegen die coronapäd­agogi­schen Tech­­­­­no­logien von der Bildungspolitik zur Kenntnis genommen.

Die pädago­gische Grunddimen­sion der gesellschaftlichen Krise ist jedoch eine viel tie­fer­grei­fen­­de, deren Grund­pro­bleme mit schnellen, pragmatistischen Eingrif­fen nicht zu lösen sind. Sie verlangt nach übergreifenden, längerfristig gültigen Antworten, die sich nicht auf hygienepäd­ago­gische Maßnahmen und schon gar nicht auf Strategien der Digitalisierung des Lernens be­gren­zen lassen, wel­che selbst wiederum neue Probleme für die Subjektwerdung produzieren. Oh­ne Anspruch auf Voll­­ständigkeit sind im Folgenden einige dieser elemen­ta­ren, die gesell­schaft­liche Bil­dungs­po­litik herausfordernden Frage­stel­lungen aufgelistet, die dringend in das Zentrum bil­dungs­poli­tischer Debatten gerückt wer­den müssten:

  • Welche kurz-, mittel- und langfristigen Sozialisationswirkungen hinsichtlich der Be­hin­de­rung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen sind durch die po­­li­tisch verfügten Einschränkungen zu erwarten? Wie werden diese sich kurz-, mittel- und langfristig auf die ps­­y­chi­­sche und geistige Gesundheit auswirken?
  • Wie werden die Welt-Selbstverhältnisse von Kindern und Jugendlichen unter den Be­din­­gungen des Lockdown und der sozialen Distanzierung verändert?
  • In welcher Weise bestimmen/beeinträchtigen die verschiedenen Dimensionen der kul­tur­­industriell geschürten und verbreiteten Angst (Angst vor Ansteckung und Tod; Angst vor der neuen Physiognomie des Sozialen, wie sie durch Maskierung, durch die Ein­füh­rung sozialer Abstandsformationen in der Öf­fentlichkeit, das so ge­nannte social distan­cing, sowie durch eine beschleunigte Digitalisierungsstra­te­gie hervorgerufen wird]; Angst vor negativen Sanktionierungen) die kindlichen und jugendlichen Zukunftsvi­si­o­nen und Lebensstimmungen?
  • Zu welchen Bewältigungsstrategien greifen Kinder und Jugendliche angesichts der mas­si­ven Einschränkungen und der sich ausweitenden sozialen Kontrolle ihres Lebens- und Hand­lungs­spielraums?
  • Wie wirken sich das Prinzip der sozialen Distanzierung im Allgemeinen und die ver­än­der­te Physiognomie des Sozialen im Besonderen auf die interpersonellen Bezie­hungs­ver­hältnisse und insbesondere auf die Wahrnehmung und die Ge­fühls­zu­stän­de von Kin­dern aus?
  • Welche möglichen (mittel- und langfristigen) Folgen kann die Einschränkung der hap­tisch-taktilen und der interpersonellen Kommunikation im Prozess der Sozia­li­sation von Kindern aus­lö­sen?
  • Inwieweit erfahren Kinder noch Solidarität unter gesellschaftlichen Bedingun­gen, die von den Direktiven sozialer Di­stanzierung, digitalisierter Kommunika­tion und Kon­takt­ein­schränkungen bestimmt werden? Welcher Schaden wird durch verweigerte Solidari­täts­er­fahrungen angerichtet?
  • Wie können die für eine demokratische Gesellschaft ebenso wie für eine eman­zi­pative Sub­jektwerdung unerlässlichen, während der Kri­se erkennbar unter Druck ge­ratenen Sub­jekteigenschaften (wie z. B. Reak­tanz, geistiges Widerstandsver­mö­gen, Kritikfähig­keit) restrukturiert und stabi­li­siert wer­den?
  • Auf welche Weise können wir angesichts der autoritär verfügten, in Topdown-Strate­gi­en durchgesetzten politischen Maßnahmen und einer einseitigen Be­richt­er­stattung einen demokratischen Diskurs mit Kindern und Jugendlichen organi­sie­ren, der die Gesell­schaft insgesamt in ihrem kritischen Urteilsvermögen kon­se­quent stärkt?

Die gegenwärtige Bildungspolitik ist notwendigerweise verengt und kurzschlüssiger Natur, denn sie klammert zentrale pädagogische Grundfragen und Problemstellungen aus. Weitgehend re­aktiv lässt sie sich von der ‚Logik‘ des politischen Corona-Krisenmanagements treiben. Um von ei­ner bloß reaktiven Bildungspolitik wegzukommen, die lediglich die gesellschafts­poli­ti­schen Stra­tegien der Bekämpfung der gesundheitlichen Gefährdung technokratisch in bil­dungs­po­litische Maßnahmen umsetzt, bedarf es nicht ‚nur‘ der pädagogisch-theoretischen Fun­die­rung bildungspolitischen Handelns, sondern auch der pädagogisch-politischen Themati­sie­rung der bis­lang höchst ungenügend reflektierten negativen Folgen für die Subjektwerdung und die päd­ago­gischen Beziehungsverhältnisse, die vom Lockdown und allen ihn begleitenden und ihm fol­genden extraordinären Maßnahmen erzeugt wurden und werden.

 

Der Beitrag als PDF zum Download: Bernhard_Bildungspolitische Fragen