Veröffentlicht am 14.08.23

Unterrichten ist Segeln, nicht Bahnfahren

Lernen ist Aufbrechen zu Neuem; Bildung eröffnet Horizonte. Das ist anspruchsvoll. Lehrpersonen agieren vielfach unter Bedingungen der Unsicherheit. Dabei tragen sie eine hohe Verantwortung. Freiheit ist das notwendige Korrelat. Gedanken zum Schuljahresbeginn.

Von Carl Bossard

Tausende von Schülerinnen und Schülern starten diese Tage in ein neues Schuljahr – zusammen mit ihren Lehrerinnen und Ausbildnern. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne, wie es Hermann Hesse im Gedicht «Stufen» formuliert. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Aufbrechen zu neuen Horizonten
Lernen heisst immer auch aufbrechen und sich auf Neues, Unbekanntes einlassen. Es gleicht einer Entdeckungsreise: den geschützten Hafen verlassen und hinaussegeln in ein neues Schuljahr. Lernen bedeutet sich aufmachen, heisst die feste Mole verlassen und sich auch ins Unbekannte wagen.

«Hinaus, hinaus ins Offene!», schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Das lässt sich auf die Bildung übertragen und auf die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene, manchmal sogar ins Unbegangene – zu neuen Horizonten. Mit Kindern und Jugendlichen unterwegs sein ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Darin liegt die belebende Dynamik des Unterrichts.

Jede Pädagogin kennt diese Spannung zwischen dem Machbaren und dem prognostisch Unsicheren. Jeder Ausbildner weiss um den Widerspruch zwischen der Offenheit der Aufgabe und der Ungewissheit der Route; er ist sich der Diskrepanz zwischen dem theoretisch anvisierten Ziel und der immanenten Unsicherheit pädagogischen Handelns bewusst. Unterrichten ist Segeln, nicht Bahnfahren – im stets gleichen Geleise. Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für Schule und Unterricht: Wie bei der Seefahrt lässt sich nicht alles planen und unter Kontrolle halten, und doch muss man auf das Auslaufen, auf die Bildungsreise mit den Schülerinnen und Schülern gründlich vorbereitet sein und das gemeinsame Ziel à fond kennen.

Freiheit als pädagogisches Elixier
Schulleitung und Lehrpersonen sind weder für Wind und Wellen noch für Sturm und Strömung verantwortlich, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind verantwortlich für den richtigen Kurs, zuständig für die Lernatmosphäre und die Performance an Bord. Wer in prognostisch unsicheren Projekten Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Nur so kann er adäquat reagieren. Das gilt für die Seefahrer, das gilt für die Schule. Freiheit sei für die Bildung «die erste und unerlässliche Bedingung», schrieb Wilhelm von Humboldt, Philosoph und Reformer der preussischen Volksschule. (1)

Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat heute wenig Freunde, und es ist weit weniger populär, als es die politische Rhetorik suggeriert. Darum wohl wird in den Schulen immer enger normiert. Das zermürbt die Akteure und schadet der Unterrichtsqualität. Dabei müssten Lehrpersonen die Kinder und Jugendlichen zur Autonomie führen, zum Vermögen, «sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen», wie es Immanuel Kant so einprägsam formuliert. (2)

Zu viele Regeln wirken als Korsett
Darin liegt das Paradoxe: Die vielen Regeln und Reglemente stehen im Widerspruch zur notwendigen Freiheit. Die Lehrkraft wird und wirkt besser, wenn sie in Freiheit situativ ihre Fähigkeiten entfalten kann. Schule muss darum ein Ort der Freiheit bleiben; sie bringt Raum fürs Unplanbare. Denn in der Schule ist manches weder voraussehbar noch klar prognostizierbar.

Humor und Witz, Imagination und Fantasie blühen nicht im engen Kleid der Vorgaben; sie brauchen einen Humus der Freiheit. Das Humane aber lässt sich nicht mit Vorschriften erzwingen. Was uns menschlich berührt, können wir nicht über bürokratische Fesseln steuern. Es braucht das Momentum der Freiheit. In der Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Hinausfahren in Freiheit, das zählt!
Nun sind die Schulschiffe wieder unterwegs, die Klassenboote in voller Fahrt. Stimmen muss die Richtung. Woher der Wind weht und wie die See wogt, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist, wie die einzelnen Schulen und Klassen die Segel setzen, welcher Esprit d’équipe sie leitet, in welchem Geist sie aufbrechen und den anvisierten Horizont ansteuern. Ein anspruchsvoller Auftrag, fast ein clin d’œil à l’impossible – ein augenzwinkerndes Liebäugeln mit dem Unmöglichen. Gerade darum brauchen Lehrerinnen und Lehrer für die Fahrt hinaus ins Offene die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!


1) Wilhelm von Humboldt (2006), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Stuttgart, S. 22.
2) Immanuel Kant (1999): Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. Philosophische Bibliothek, Bd. Nr. 512. Hamburg, S.20.