Veröffentlicht am 10.08.23

UNESCO-Bericht zu IT in Schulen fordert mehr Bildungsgerechtigkeit

Die UNESCO hat den Einsatz von Digitaltechnik in Schulen weltweit untersucht und die Ergebnisse mit dem Bericht „2023 Global Education Monitor“ vorgelegt (418 Seiten; Zusammenfassung 35 Seiten). Der Untertitel „Technologie in der Bildung: Ein Werkzeug zu wessen Nutzen?“ verdeutlicht die Fragestellung. Das Ergebnis belegt, dass bei den aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stehen, sondern wirtschaftliche Interessen der IT-Anbieter und Aspekte der Datenökonomie. Aufgabe des Berichts ist es daher, falsche Versprechen aufzuzeigen und auf Gefahren etwa durch Datenkumulation, Fehlentwicklungen im Einsatz von IT und expandierende Kosten für Bildungseinrichtungen hinzuweisen. Das Ziel ist, den Einsatz von Informationstechnik und Künstlicher Intelligenz (KI) an den Bedürfnissen der und zum Nutzen von Lernenden auszurichten statt an Partikularinteressen der IT-Wirtschaft und einzelner Medienanbieter. Von Ralf lankau

Der Beitrag als PDF (12 S.): Lankau: Unesco-Bericht zu IT in Schulen


Die zentrale Frage des Unesco-Berichts

Die zentrale Frage des Unesco-Berichts lautet: „Kann Technologie die wichtigsten Herausforderungen im Bildungswesen lösen?“ Die Antworten darauf sind differenziert, weil die weltweit untersuchten Länder und (Bildungs-)Kulturen ebenso varainatenreich sind wie die lokalen sozialen Bedingungen und technischen Voraussetzungen. Eine Paraphrase der Short Summary zeigt die Intention der Untersuchung.

Die Einführung digitaler Technologien habe zu vielen Veränderungen im Bildungs- und Lernbereich geführt, insbesondere in wohlhabenden Ländern wie den USA, Europa und Teilen Asiens, doch sei fraglich, ob Technologie Bildungsprozesse wirklich so verändert habe wie behauptet wird. Zudem variiere der Einsatz digitaler Technologien in den Ländern und Sozialgemeinschaften durch das jeweilige sozioökonomische Niveau, die Bereitschaft und (Vor)Kenntnisse der Lehrkräfte, das generelle Bildungsniveau und die Einkommen der Länder so stark, dass verallgemeinernde Aussagen nicht zulässig seien. Nur in wohlhabenden und den technologisch fortschrittlichsten Ländern etwa würden Computer und IT-Geräte flächendeckend in Schulen eingesetzt.

Gerade sozial Benachteiligten werde der Zugang zu digitalen (Lern)Medien oft verwehrt. Dafür würden die kurz- und langfristigen Kosten des Einsatzes digitaler Technologie regelmäßig erheblich unterschätzt. (Die Erstinvestitionen betragen nur ca. 25%, d.h. 75% der Kosten für IT sind i.d.R. nicht benannte Folgekosten.) Vorschriften für Technologie würden außerhalb des Bildungssektors festgelegt und entsprächen damit eher nicht den Bedürfnissen von Bildungsprozessen. Und die Erkenntnisse über die Auswirkungen von IT in Schulen seien zumindest strittig und würden kontrovers diskutiert.

Daher ruft die Unesco bereits mit der Fragestellung „Ein Werkzeug zu wessen Bedingungen?“ und der gleichzeitig startenden Kampagne #TechOnOurTerms-Kampagne dazu auf, „bei Entscheidungen über Technologie im Bildungswesen die Bedürfnisse der Lernenden in den Vordergrund zu stellen“ und zu prüfen, ob Anwendung aus Sicht der Lernenden angemessen, gerecht, evidenzbasiert und nachhaltig seien. Entscheider werden aufgefordert, …

„… den Blick auf die Zurückgebliebenen zu richten, um sicherzustellen, dass sie sich auf die Ausgegrenzten konzentrieren. Sie werden daran erinnert, nach oben zu blicken, um zu prüfen, ob sie über Belege für die Auswirkungen und ausreichende Informationen über die Gesamtkosten verfügen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Und schließlich werden sie aufgefordert, den Blick nach vorn zu richten, um sicherzustellen, dass ihre Pläne mit ihrer Vision einer nachhaltigen Entwicklung übereinstimmen.“ (Short Summary)

Elementar sei daran zu erinnern, dass Lehren und Lernen auf menschlichen Verbindungen beruhe. Technologie dürfe das soziale Miteinander niemals verdrängen. Digitale Technologie könne die persönliche Interaktion mit den Lehrern daher allenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen.“ (ebda.) Das widerspricht vehement den derzeit propagierten Konzepten der IT-Wirtschaft, die das Unterrichten und Testen zunehmend automatisieren will, zuletzt mit Anwendungen der sog. Künstlichen Intelligenz (KI), Avataren und Bots. Der Unesco-Bericht ist stattdessen ein Plädoyer für eine dem Menschen dienende Technik, auch und gerade im Bildungsbereich.

Das ist keine Absage in Technik, sondern die Forderung nach einer Neu-Justierung mit dem Ziel von Bildungs- und sozialer Gerechtigkeit, wenn es in den Key Messages heißt: „Die Technologie ist für Millionen von Menschen ein Rettungsanker in Sachen Bildung, schließt aber viele andere aus.“ oder „Das Recht auf Bildung ist zunehmend gleichbedeutend mit dem Recht auf eine sinnvolle Vernetzung, doch der Zugang ist ungleich.“ Was der Unesco-Bericht leistet, ist daher als erstes Differenzierung in der Beurteilung von Technologien, wenn es heißt: „Einige Bildungstechnologien können bestimmte Arten des Lernens in bestimmten Kontexten verbessern.“ Die Kehrseite der Medaille lautet zugleich: „Der rasche technologische Wandel setzt die Bildungssysteme unter Druck, sich anzupassen.“ Das ist der am deutlichsten kritisierte Aspekt von IT in Schulen: die Anpassung der Lernenden und ihrer Lernprozesse an IT-Systeme.

Das ist die generelle Crux, wenn kybernetischer Systeme des „Messen. Steuern. Regeln.“ auf Sozialsysteme angewendet werden: Der Mensch wird de-personifiziert und ist nurmehr eine statistische Größe im zu regelnden System.

Die drei Paradoxien der Verwechslung von Werkzeug und Lösung

Audrey Azoulay, Director General der Unesco, formuliert im Vorwort die drei mit IT in Bildungseinrichtungen verbundenen Paradoxien. Erstens: Das Versprechen des „personalisierten Lernens“ blende die grundlegende soziale und menschliche Dimension des Lernens aus. Es lohne sich daher, das an sich Offensichtliche zu wiederholen:

„Kein Bildschirm kann jemals die Menschlichkeit eines Lehrers ersetzen. Wie im UNESCO-Bericht „Futures of Education“ (Zukunft der Bildung), der 2021 veröffentlicht wurde, hervorgehoben wird, muss die Beziehung zwischen Lehrern und Technologie eine der Komplementarität sein – niemals der Substituierbarkeit.“ (S. vii)

Zweitens: Das Versprechen des leichteren Zugangs zu Bildung durch digitale Angebote habe sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil. Die digitale Kluft und die Ungleichheit beim Zugang zu Bildungsangeboten haben sich in der Pandemie sogar vertieft. Ein Großteil der Kinder habe gar keinen Zugang zu Fernunterricht gehabt. Nur 40% der Grundschulen weltweit verfügten z.B. über einen Internetzugang. Verfügbarkeit sei aber nur die (oft fehlende) Voraussetzung. Entscheidend sei die Frage nach dem Nutzen und Mehrwert für Lernprozesse:

„Selbst wenn der Internetzugang flächendeckend wäre, müsste aus pädagogischer Sicht nachgewiesen werden, dass die digitale Technologie einen echten Mehrwert für effektives Lernen bietet, insbesondere in einer Zeit, in der wir uns alle der Risiken übermäßiger Bildschirmarbeit bewusst werden.“ (S. vii)

Dieser Nachweis des Mehrwerts wurde bislang nicht erbracht (und korrespondiert stattdessen mit steigenden Bildschirmnutzungszeiten samt negativen gesundheitlichen wie psychischen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, s.u.). Das dritte Paradox sei, dass zwar behauptet werde, Bildungsangebote zu einem globalen Gemeingut zu machen, aber die Rolle kommerzieller und privater Interessen in der Bildung würden immer stärker, dadurch entstünden ganz neue Ungewissheiten und Gefahren, etwa durch das Sammeln und Auswerten von Nutzerdaten durch wenige IT-Monopole. Bis heute würde nur eines von sieben Ländern den Schutz von Bildungsdaten rechtlich garantieren. Daher empfehle die Unesco,

  • dass die Interessen der Schüler systematisch Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben sollten – insbesondere vor kommerziellen Überlegungen;
  • Technologie als Mittel und nicht als Zweck zu betrachten sei und
  • fordert die Unesco ihre Mitgliedstaaten auf, eine faire, gerechte und sichere Entwicklung von Bildungstechnologien zu gewährleisten.

Dazu müsse ein angemessener, normativer Rahmen geschaffen und Standards in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre, den Zugang zu Daten, die Nichtdiskriminierung und die Begrenzung der Bildschirmzeit festgelegt werden. Öffentliche Maßnahmen und internationale Kooperationsprogramme müssten auf den Weg gebracht werden, Zugang zu Konnektivität und offenen Bildungsressourcen (Open Source Software und Open Education Resources) gefördert und Lehrkräfte in neuen Techniken und damit zusammenhängenden Fragen geschult werden.

Das ist keine Absage an Informationstechnologien in Bildungseinrichtungen, sondern eine Absage an die derzeitigen Geschäftsmodelle der aktuellen Anbieter. Es ist die Forderung, IT-Infrastrukturen nach den Prämissen und Bedürfnissen der Lehrenden und Lernenden einzusetzen statt nach Partikularinteressen der IT-Wirtschaft und Datenökonomie (die von der amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff als „Überwachungskapitalismus“ klassifiziert werden).

Wechsel der Perspektive: Der lernende Mensch im Fokus statt IT

Daher ist die Presseberichterstattung über den Unesco-Bericht zum Teil irritierend, wenn nicht sachlich falsch. „Die UNESCO will Smartphones an Schulen verbannen“ war ein Beitrag bei heise.de betitelt (Bünte 2023).Die Bildung an Schulen sei durch diese Geräte gefährdet. Golem titelte „Unesco fordert weltweites Smartphone-Verbot“ (Stöck 2023), relativiert allerdings bereits in der Unterzeile: „In einem neuen Bericht warnt die Unesco vor möglichen negativen Folgen der übermäßigen Nutzung moderner Technologien im Klassenzimmer.“

Vor übermäßiger Nutzung, steigenden Bildschirmzeiten und den gesundheitlichen und sozialen Folgen müssten sogar die Digitalisten warnen, die das Heil und Segen für das „moderne Lernen“ aus dem Netz erwarten und als Lehrkräfte ohne WLAN und Clouddiensten „gar nicht mehr unterrichten“ könnten, wie einige behaupten. (Dass diese Argumentation womöglich Teil des Problems und nicht der Lösung in Schulen ist, muss anderweitig diskutiert werden.). Verbote sind aber nur ein nachgeordneter Teilaspekt der Diskussion über IT in Schulen (siehe dazu Kapitel 8 des Unesco-Berichts, das auflistet, welche Länder bereits Verbote ausgesprochen haben).

Wichtiger sind die Grundsatzfragen, die das Unesco-Papier anspricht: Wem nutzt der IT-Einsatz wirklich? Gleich der erste Satz der Kernbotschaften (Key Messages) des Papiers macht deutlich, was in der aktuellen Diskussion über Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) in Bildungseinrichtungen falsch läuft. „Gute, unparteiische Erkenntnisse über die Auswirkungen der Bildungstechnologie sind Mangelware.“ lautet der erste Satz und es geht direkt weiter mit (Hervorhebungen im Original):

Es gibt kaum belastbare Belege für den Mehrwert der digitalen Technologie im Bildungswesen. Die Technologie entwickelt sich schneller, als es möglich ist, sie zu bewerten (…). Eine Umfrage unter Lehrern und Verwaltungsangestellten in 17 US-Bundesstaaten zeigte, dass nur 11 % der Befragten vor der Einführung der Technologie einen von Experten begutachteten Nachweis verlangten.“

Mehrwert und Nutzen digitaler Medien für den Unterricht sind (auch nach mehr als 40 Jahren Einsatz von IT in Schulen) nicht belegt. Stattdessen werden in kurzer Abfolge immer neue Anwendungen propagiert und vermarktet. Es bleibt keine Zeit zum Testen und Validieren. „Die Online-Inhalte sind gewachsen, ohne dass die Qualitätskontrolle und die Vielfalt ausreichend geregelt wurden.“ ist daher ein Kritikpunkt des Papiers. Der Einsatz neuer Geräte und Dienste wird von technischen Entwicklungen vorgegeben, anstatt von Anforderungen und Bedürfnissen der Lehrenden und Lernenden bestimmt zu werden. Schulen sind ein Experimentierfeld (und Markt) für neue Techniken, deren Relevanz nur von den Anbietern behauptet wird:

Ein Großteil der Nachweise stammt von denjenigen, die versuchen, sie zu verkaufen. Pearson finanzierte seine eigenen Studien und bestritt unabhängige Analysen, die zeigten, dass seine Produkte keine Auswirkungen hatten.“

Pearson ist der weltweit größte Bildungskonzern und Buchverlag, zudem Marktführer für Bildungsmedien in Großbritannien, Indien, Australien und Neuseeland, zugleich die zweitgrößte Verlagsgruppe in den USA und Kanada. Wie so eine Marktmacht und Mechanismen aus Marketing. Lobbyismus und Propaganda zum eigenem Nutzen funktionalisiert werden kann, zeigt die Satire „Thank you for Smoking“ von Jason Reitman (2005 nach dem Roman von Christopher Buckley verfilmt).

Wohl wissend um die wissenschaftlich bestätigte Schädlichkeit des Rauchens relativiert der Lobbyist Nick Naylor die Gefahren des Rauchens in TV-Interviews und propagiert stattdessen, dass die Tabakindustrie „alles für das Wohlbefinden und ein langes Leben ihrer Kunden tue“. Der selbe Naylor trifft sich privat mit zwei Lobbyisten für Alkohol und Waffen. Ihr interner Wettkampf ist das Ranking, ob Alkohol, Nikotin oder Schusswaffen die meisten Toten erzeuge … Fassade und Wirklichkeit: Das Geschäft und die Folgen für die Nutzerinnen und Nutzer sind zweierlei.Auch der Nutzen von IT in Schulen wird bislang nur behauptet, nicht belegt. „Evidence of a potential“ nennt der dänische Wissenschaftler Jesper Balslev diese Strategie (Balslev 2020). Richtig ist, dass die negativen Potentiale digitaler Medien im Unesco-Bericht aufgezeigt werden. Neben der Aussage „Die Verbesserung des technologie-gestützten Unterrichts durch Personalisierung kann einige Arten des Lernens verbessern.“ steht auf der gleichen Seite die Warnung:

Die Nutzung von Technologien durch Schüler im Klassenzimmer und zu Hause kann ablenkend wirken und das Lernen stören. Eine Meta-Analyse von Forschungsergebnissen über die Nutzung von Mobiltelefonen durch Schüler und ihre Auswirkungen auf die Bildungsergebnisse, die Schüler von der Vorschule bis zur Hochschule in 14 Ländern umfasst, ergab eine geringe negative Auswirkung, die auf Hochschulebene noch größer ist. Studien, die sich auf PISA-Daten stützen, weisen auf einen negativen Zusammenhang zwischen IKT-Nutzung und Schülerleistungen ab einer moderaten Nutzung hin. Lehrkräfte nehmen die Nutzung von Tablets und Handys wahr, die den Unterricht / Verwaltung im Klassenzimmer behindern. Mehr als eine von drei Lehrkräften in sieben Ländern, die an der ICILS 2018 teilnahmen, stimmte zu, dass der IKT-Einsatz im Klassenzimmer die Schüler ablenkt. Online-Lernen hängt von der Fähigkeit der Schüler zur Selbstregulierung ab und kann für leistungsschwache und jüngere Lernende ein erhöhtes Risiko der Ablenkung bedeuten.“ (S. 20 Zusammenfassung)

Statt einem pauschalen Smartphone- oder Handyverbot argumentiert das Unesco-Papier also deutlich differenzierter und formuliert konkrete Anforderungen und sogar Handlungsanweisungen an Lehrkräfte und Bildungseinrichtungen.

„Ein Verbot von Technologie in Schulen kann legitim sein, wenn die Integration von Technologie das Lernen nicht verbessert oder das Wohlbefinden der Schüler verschlechtert. Die Arbeit mit Technologie in Schulen und die damit verbundenen Risiken können jedoch mehr erfordern als ein Verbot.

Erstens sollten die Richtlinien klar festlegen, was in Schulen erlaubt ist und was nicht. Schüler können nicht bestraft werden, wenn es keine Klarheit oder Transparenz über ihr erforderliches Verhalten gibt. Entscheidungen in diesen Bereichen erfordern Gespräche, die durch fundierte Beweise gestützt werden, und die Einbeziehung aller, die ein Interesse am Lernen der Schüler haben.

Zweitens sollte Klarheit darüber herrschen, welche Rolle diese neuen Technologien beim Lernen spielen und wie sie von den Schulen und innerhalb der Schulen verantwortungsvoll eingesetzt werden.

Drittens müssen die Schüler die mit der Technologie verbundenen Risiken und Chancen kennen lernen, kritische Fähigkeiten entwickeln und verstehen, wie man mit und ohne Technologie lebt.

Wenn man Schüler vor neuen und innovativen Technologien abschirmt, kann das für sie von Nachteil sein. Es ist wichtig, diese Fragen mit Blick auf die Zukunft zu betrachten und bereit zu sein, sich anzupassen, wenn sich die Welt verändert.“ (S. 158)

Dazu kommen notwendig Fragen des Datenschutzes, weil damit das informationelle Selbstbestimmungsrecht und die Privatsphäre von Minderjährigen zusammenhängen:

„Eine Analyse von 163 Bildungstechnologieprodukten, die während der COVID-19-Pandemie für Kinder empfohlen wurden, ergab dass 89 % der Produkte Informationen über Kinder in Bildungseinrichtungen oder außerhalb der Schulzeit sammeln können oder dies auch tun.“ (Kap. 8: Governance and Regulation hier S. 143)

Daten sind die Währung des 21. Jahrhunderts. Daten von Kindern und Jugendlichen sind der Goldstandard, weil sie am wenigsten über mögliche Folgen der (Selbst)Verdatung reflektieren (können) und vor allem noch eine sehr lange Konsumbiographie vor sich haben. Im achten Kapitel des Berichts werden auch negative Auswirkungen von steigenden Bildschirmzeiten auf das Wohlbefinden und die Gesundheit referiert:

„Der Umgang mit Bildschirmen und Technologie beeinträchtigt das Wohlbefinden von Kindern.

  • Eine Analyse von Kindern im Alter von 2 bis 17 Jahren ergab, dass mehr Bildschirmzeit mit einem geringeren Wohlbefinden verbunden war. In den Vereinigten Staaten verbringen die 11- bis 14-Jährigen schätzungsweise 9 Stunden pro Tag vor dem Bildschirm. Die Werte stiegen während COVID-19.
  • Es gibt nur wenige Vorschriften und Richtlinien für die Bildschirmzeit. In China beschränkte das Bildungsministerium die Zeit, die mit digitalen Geräten als Lehrmittel auf 30 % der gesamten Unterrichtszeit.“

Zunehmend mehr Länder verbieten die Verwendung von Mobiltelefonen oder anderen privaten digitalen Geräten in Schulen. In Frankreich z.B. gilt bereits seit 2010 ein Handyverbot im Unterricht, 2018 zum Komplettverbot internetfähiger Geräte wie Handys, Tablets und Smartwatches in allen Räumlichkeiten und bei schulischen Aktivitäten auch außerhalb des Schulgebäudes erweitert. Die Niederlande führen 2024 ein Smartphone-Verbot ein. In Schweden wurden nach dem Bericht des Karolinska-Instituts die Tablets aus Vor- und Grundschulen wieder entfernt. Jedes vierte Land weltweit verbietet aktuell private Geräte in der Schule, damit Kinder und Jugendliche sich wieder auf den Unterricht konzentrieren (können) und miteinander kommunizieren.

In Frage steht zugleich, ob und ggf. welche IT-Infrastruktur in öffentlicher Hand aufgebaut werden kann und muss, um die emanzipierenden Potentiale von Bildung über digitale Geräte und Dienste auch den sozial Benachteiligten zur Verfügung stellen und im Kontext vom Präsenzunterricht (!) zum Lernen nutzen zu können. Denn die zentrale Frage des Unesco-Berichts „Kann Technologie helfen, die wichtigsten Herausforderungen im Bildungssystem zu lösen?“ lässt sich nur ambivalent und immer nur für den konkreten Einzelfall, abhängig vom Alter der Probanden, der Schulform, der Lernkultur u.v.m. beantworten. Diese Ambivalenz wird in den Empfehlungen aufgegriffen wenn es heißt (Auszug):

  • Der Ruf nach Personalisierung und Anpassung kollidiert mit der Notwendigkeit, die soziale Dimension der Bildung zu erhalten. (…) Was für die einen ein hilfreiches Lehr- und Lernmittel ist, kann für andere eine Belastung und Ablenkung sein.
  • Es besteht ein Konflikt zwischen Inklusivität und Exklusivität. Die Technologie kann für viele einen Rettungsanker in der Bildung darstellen. Für viele andere stellt sie jedoch ein weiteres Hindernis für gleiche Bildungschancen dar, da neue Formen der digitalen Ausgrenzung entstehen.
  • Die kommerzielle Sphäre und das Gemeingut ziehen in unterschiedliche Richtungen. Der wachsende Einfluss der Bildungstechnologie-Industrie auf die Bildungspolitik auf nationaler und internationaler Ebene gibt Anlass zur Sorge.
  • Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Effizienzvorteile, die die Bildungstechnologie kurzfristig bietet, auch langfristig Bestand haben werden. (…). Die gesamten wirtschaftlichen und ökologischen Kosten werden jedoch in der Regel unterschätzt und sind nicht tragbar.
  • Die Bandbreite und die Fähigkeit vieler Menschen, Technologie zu nutzen im Bildungswesen sind begrenzt. Und es ist an der Zeit, die Kosten der Bildungstechnologie im Hinblick auf die ökologische Nachhaltigkeit zu bedenken und zu hinterfragen, ob diese Technologie wirklich die Widerstandsfähigkeit der Bildungssysteme stärkt.
  • Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt. Nur weil etwas getan werden kann, heißt das nicht, dass es auch getan werden sollte. Von Technologien, die für andere Zwecke entwickelt wurden, kann nicht unbedingt erwartet werden, dass sie für alle Bildungsbereiche geeignet sind.
  • Die Kampagne #TechOnOurTerms fordert, dass bei Entscheidungen über Technologien im Bildungsbereich die Bedürfnisse der Lernenden im Vordergrund stehen, (…) Die Technologie soll die menschliche Verbindung, auf der Lehren und Lernen beruhen, unterstützen, aber nicht ersetzen.
  • Der Schwerpunkt sollte auf den Lernergebnissen und nicht auf dem digitalen Input liegen. Um das Lernen zu verbessern, sollte die digitale Technologie die persönliche Interaktion mit den Lehrern nicht ersetzen, sondern ergänzen.

Um sich selbst einen Überblick über die Zielrichtung des Unesco-Papiers erarbeiten zu können, sind hier der Bericht und die Zusammenfassung verlinkt.

Der Bericht (engl.) zum Download:

Zitierte Quellen und Links

Balslev, Jesper (2020) Evidence of a potential. The political arguments for digitizing education 1983-­‐2015. Ph.D. dissertation, Jesper Balslev, Department of Communication and Arts, Roskilde University, January 2020
Bünte, Oliver (2023) Unesco will Smartphones aus Schulen verbannen. Die Unesco sieht die Bildung an Schulen durch Smartphones gefährdet. Die Mobiltelefone hätten deshalb im Unterricht nichts verloren. (26.7.2023)
Butler, Patrick; Farah, Hibag (2023) ‘Put learners first’: Unesco calls for global ban on smartphones in schools, The Guardian (26.7.2023)
Stöck, Marc (2023) Für effektiveres Lernen: Unesco fordert weltweites Smartphone-Verbot an Schulen. In einem neuen Bericht warnt die Unesco vor möglichen negativen Folgen der übermäßigen Nutzung moderner Technologien im Klassenzimmer; (26.7.2023)