Veröffentlicht am 08.08.12

›Module‹

»Die Module spiel’n verrückt …« — Vielen Universitätsangehörigen klingt dieser Tage wieder der 80er Jahre Song »Computerliebe« (1984) von Paso Doble schmerzlich in den Ohren, der damals im Zuge der ›Neuen Deutschen Welle‹ die Spitze der Hitparaden erklomm. In deutschen Universitäten wird gegenwärtig ständig von Modulen gesprochen. Durch die Umstrukturierung der Studiengänge in solch thematisch gebündelte Lehreinheiten, der jeweils ›passende‹ Lehrveranstaltungen zugeordnet werden, verkommt ihr Inhalt beinahe zur Nebensache, da er von einem trivialen äußeren Zweck überlagert wird. Schließlich ist die Anrechenbarkeit eines Seminars oder einer Vorlesung für den noch fehlenden Modulbereich mittlerweile von weit größerem Interesse als ihr vermeintlicher Bildungswert.

Ursprünglich ist von Modulen bekanntlich in ganz anderen — vornehmlich technischen — Zusammenhängen die Rede. Allgemein bezeichnet man ein Modul als ein Bau- oder Steuerelement bzw. Funktionsbaustein in einem größeren System. Wenn Mechaniker, Elektroniker oder Softwareentwickler also von Modulen sprechen, erzeugt dies in der Regel kein Befremden oder Unbehagen, da diese Bezeichnung deren spezifischer Fachterminologie entspricht. Wenn man als Pädagoge von Modulen spricht, fühlt man sich dabei oft weniger behaglich. Schließlich erinnert deren technische Konnotation unweigerlich an längst überholt geglaubte, mechanistische Bildungsmodelle wie den ›Nürnberger Trichter‹ im Baconismus, dem Comenius schon eine ›allumfassende Bildung‹ (omnes, omnia, omnino) entgegengestellt hatte. Bildungsbiographien mittels modularisierter Studiengänge zu steuern soll Zufälle eliminieren, Unwägbarkeiten vorbeugen und Normabweichungen unterbinden. Da in der aktuellen Reformpolitik Freiheit oft mit Beliebigkeit gleichgesetzt wird, die Redundanz und Ineffizienz begünstigt, hält man es für unumgänglich, das vorhandene Lehrangebot nach dem Baukastenprinzip neu zu sortieren und an die Erfordernisse des Marktes anzupassen bzw. in vorgefertigte Module ›einzupassen‹. Hierbei nimmt man scheinbar billigend in Kauf, dass solche Einpassungen oft zu Verformungen der Inhalte führen (»was nicht passt, wird passend gemacht«) oder den Wegfall unpassender Inhalte — einschließlich deren Vertreter — bedeuten.

Die Einrichtung von regel- und messbaren Steuereinheiten, wie sie Module letztlich darstellen, reduziert den Erwerb kritischer Urteilskraft und unkonventioneller Denkweisen in individuellen Bildungsverläufen auf ein kalkulierbares Maß. Modulbeschreibungen, Modulbeauftragte und Modulhandbücher fungieren in diesem System als Garanten für ein reibungsloses, effizientes und ordnungsgemäßes Hochschulstudium. Nicht nur der neuhumanistische Anspruch einer freien Selbstbestimmung durch Bildung wird hiermit obsolet; auch die klassische Leitidee einer sich ständig aus der Forschung erneuernden Lehre wird angesichts ›modular‹verlaufender, wissenschaftlicher Lebensläufe künftig nur schwer zu halten sein. Unbestritten ist, dass Technik und Innovation oft zusammengedacht werden (»Vorsprung durch Technik«, Audi, 1971). Demzufolge kann sich eine fortschrittliche Bildungspolitik offenbar kaum dem Charme technischer Vokabeln und der darin verborgenen Modelle entziehen. Als zeitgemäß können Bildungseinrichtungen augenscheinlich nur dann gelten, wenn sie sich dem Fetisch ergeben, dass die ›Bildung der Zukunft‹ auch modern, d.h. technisch, versprachlicht werden muss.

Entgegnen könnte man dieser Sichtweise Vieles. So hat Jacques Derrida in seinem Entwurf einer »unbedingten Universität« (2001) deutlich gemacht, dass es die Aufgabe jedes bekennenden Universitätsangehörigen sein muss, den Raum einer von jeder Bedingung freien Diskussion dauerhaft problematischer Begriffe wie Wahrheit, Mensch oder Welt zu jeder Zeit und gegen jeden Widerstand aufrecht zu erhalten. Dem verzweckenden Eingriff politischer, medialer und ökonomischer Mächte, die sich in Gestalt von fremdursprünglichen Begriffen wie ›Module‹ immer wieder unrechtmäßig Zutritt zu den Bildungseinrichtungen verschaffen, hält er deren Dekonstruktion entgegen, die sie letztlich ihrer einseitigen Dominanz berauben soll. Aus wissenschaftlicher Sicht kann man einen solchen Entwurf durchaus als kühn und innovativ bezeichnen. Das Lied der »verrücktspielenden Module« war einst Ausdruck eines beginnenden Technik-Hypes, der mit dem Einzug des Personalcomputers in die Privathaushalte einherging. Damals glaubte man, dass ein völlig neues Zeitalter hereinbräche, so wie man heute glauben soll, dass die Universitäten durch modularisierte Studiengänge und dergleichen erst ›zukunftsfähig‹ würden. Hält man sich jedoch vor Augen, dass sich die Geschichte vielen sicher geglaubten Prognosen oft hartnäckig widersetzt, kommt man womöglich zu der Auffassung, dass die Module für den Raum akademischer Lehre und Forschung bald ungefähr so innovativ und zukunftsweisend sein werden wie ein Zauberwürfel oder ausgelatschte Moonboots.

Aktueller denn je muss da der Verweis Comenius’ auf das ›Allumfassende‹ (omnino) der Bildung wirken. Diese für das Bildungsziel einer ›wahren Menschenweisheit‹ unerlässliche Ganzheit bedeutet weit mehr als die Summe ihrer Teile. Demgegenüber wird die modularisierte Hochschulbildung fast zur Karikatur: Im Blick auf das Ganze bietet sich das Lehrangebot als bloße Anhäufung von vorgeformten Bauteilen dar. Die individuelle Studienleistung kann in letzter Konsequenz lediglich noch darin bestehen, diese in der richtigen Reihenfolge nach vorgegebenem Bauplan zusammenzusetzen. Dass dies eine durchaus respektable und intellektuell anspruchsvolle Aufgabe darstellt, weiß man spätestens seit ein schwedisches Möbelhaus die Weltmärkte erobert hat — studierst du noch oder baust du schon?

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 3/07)