Veröffentlicht am 22.03.20

Sorgenkind Bildungsforschung

Eine Replik von Wolfgang Kühnel auf den Beitrag von Olaf Köller „Sorgenkind Mathe: Nur besserer Unterricht hilft“ in der FAZ vom 1. März 2020

Prof. Köller ist gewiss ein anerkannter Psychologe, aber wenn er (oder einer seiner Kollegen Psychologen) sich zur Mathematik und speziell zum Mathematikunterricht äußert, dann bekommt man als Mathematiker gelegentlich das Grausen. Woher bitte wissen die Psychologen denn, welche Bildungsziele und Lehrpläne im Fach Mathematik nun gut sind und welche nicht, welche Art Unterricht gut ist und welche nicht?

Allein die Tatsache, dass es wiederholt Brandbriefe zu diesem Thema gab (und zwar aus der Unterrichtspraxis), sollte doch beunruhigen. Dazu schreibt Herr Köller, Schlüsse aus solchen Erfahrungen zu ziehen, sei nicht nur unwissenschaftlich, sondern voreilig, vielleicht sogar naiv.

Er übersieht dabei, dass die hochoffizielle Reaktion auf schwache Testergebnisse bei TIMSS in den 1990er Jahren (später auch bei PISA) dann ebenfalls als voreilig und vielleicht auch als naiv zu gelten hätte. Man hat damals nämlich befunden, dass die Schuld bei den „alten“ Lehrplänen liegen müsse und dass man eben neue Lehrpläne mit einem „Paradigmenwechsel“ benötige. Wo aber war bitte der wissenschaftliche Nachweis, dass die Lehrpläne und nicht einfach der nicht so gute Unterricht ursächlich waren? Diese Frage wurde gar nicht gestellt, als vor ca. 20 Jahren die neuen Richtlinien mit der Kompetenzorientierung, den sogenannten „Modellierungsaufgaben“ und der Betonung einer sogenannten „Alltagsmathematik“ im Unterricht entwickelt wurden und dann in Kraft traten.

Nun schreibt Herr Köller, dass dieselben Defizite wie jetzt aktuell schon bei TIMSS in den 1990er Jahren festgestellt wurden, dass also die neuen KMK-Bildungsstandards gar nicht ursächlich sein können. Aber warum hat man diese Standards denn eingeführt? Doch um die Situation zu verbessern. Aber nichts dergleichen ist eingetreten, die Tendenz geht auch bei den „großen“ Tests wie PISA, IGLU usw. eher nach unten. Auch der letzte IQB-Bildungstrend zeigt gerade am Gymnasium eine negative Tendenz auf. Und dort sitzen ja wohl die meisten der künftigen MINT-Studenten.

Nebenbei: Bei den Mathematik-Olympiaden 2017 und 2019 lag Kasachstan in der Länderwertung klar vor Deutschland, immer noch weit entfernt von der internationalen Spitze (USA, China, Korea, Vietnam). Haben wir nicht den Anspruch, uns an den besten zu orientieren? Wird uns das nicht bei PISA immer erzählt?

Herr Köller zitiert sogar noch eine Studie, nach der zwei Drittel der Abiturienten am Oberstufenstoff in Mathematik scheitern. Aber fallen sie deswegen durch, weil sie ja offensichtlich nicht die geforderten Standards erfüllen? Keineswegs, die Duchfallquote im Abitur ist minimal bei deutlich unter 5 %. Die Bildungsstandards dienen somit auch einer Verschleierung der wahren Verhältnisse. Nach der ebenfalls erwähnten MaLeMint-Studie aus Köllers Institut sind die Erwartungen der Hochschulen mittlerweile gar nicht mehr so sehr weit entfernt von dem, was in irgendwelchen offiziellen Bildungszielen, Bildungsstandards oder Lehrplänen steht. Man könnte diese „theoretische Lücke“ in der Tat durch Brückenkurse schließen, was ja seit Jahrzehnten schon versucht wird. Das Hauptproblem aber wird von der empirischen Bildungswissenschaft und eben auch von Herrn Köller konsequent ignoriert:

Diese Bildungsziele kommen in den Köpfen der Abiturienten nicht an !
Die KMK-Bildungsstandards stehen nur auf dem Papier, sie werden noch nicht einmal konsequent eingehalten, ganz abgesehen davon, dass sie die mathematischen Inhalte gegenüber früheren Jahrzehnten verwässert haben zugunsten neuer Moden wie einem Kompetenzraster, der „mathematical literacy“ (mein Vorschlag zur Übersetzung: praktische Hauptschulmathematik) und der sogenannten „mathematischen Modellierung“, zu der in der Grundschule auch Aufgaben vom Typ „zwei Kilo Äpfel kosten 3 €, wieviel kosten dann vier Kilo?“ gezählt werden.

Als erwiesen gelten kann die Tatsache, dass die Studienabbrüche im MINT-Bereich auf „Überforderungserleben der Studenten“ zurückzuführen sind. Aber warum fühlen sie sich mehr und mehr überfordert, obwohl die universitären Eingangskurse nicht „verschärft“ wurden? Weil man es ihnen in der Schule leichter und leichter gemacht hat? Und damit sollen die Bildungsziele, die Bildungsstandards und die Lehrpläne nichts zu tun haben? Das ist nicht glaubhaft.

Da wirkt es wie Zynismus, wenn Herr Köller am Schluss fordert, die Schüler müssten mehr „durch anspruchsvolle Aufgaben intellektuell gefordert“ werden. Diese anspruchsvollen Aufgaben und das intellektuelle Fordern hat man doch gerade im Zuge des Paradigmenwechsels weitgehend entsorgt, und das unter dem Beifall eines Kartells der Psychometriker und (zum Teil) auch der sich diesem unterordnenden Didaktiker, die gerne selber empirische Studien betreiben, statt sich zu überlegen, wie man das mathematische Niveau in der Schule inhaltlich anheben könnte. In der progressiven Erziehungswissenschaft spricht man heute ohnehin nur noch vom (passiven) Fördern, nicht mehr vom Fordern (das gilt inzwischen als sozial ungerecht), passend dazu, dass Studenten nicht mehr (aktiv) „studieren“, sondern (passiv) „ausgebildet werden“ wie gehobene Azubis.

Völlig falsch liegt Herr Köller bei seiner Behauptung, es sei „vielerorts gängige Praxis, Studenten der verschiedenen MINT-Fächer mit Mathematik-Hauptfachstudierenden in gemeinsame Lehrveranstaltungen zu stecken“. Das gibt es jedenfalls an Universitäten und technischen Hochschulen nur zum Teil (mit guten Gründen) bei den Physik-Hauptfachstudierenden und bei den gymnasialen Mathematik-Lehrämtlern, sonst nicht. Die Ingenieure bekommen seit Jahrzehnten eigene Kurse, andere Studiengänge erst recht. Hier zeigt sich, dass Herr Köller bei manchen Dingen eben wie der Blinde von der Farbe redet. Die Mathematik sollte man den Fachleuten überlassen. Und man sollte auf die vielen Lehrer hören, die in der Praxis versuchen, die Bildungsziele und Lehrpläne umzusetzen. Die Psychologen könnten sich eher etwas zurückhalten, statt sich ständig als „Alleskönner“ aus dem Fenster zu lehnen.

Zum Schluss: Das ewige Mantra der Art „wir müssen den Unterricht verbessern“ sagt ja grundsätzlich nichts Falsches, aber wie viele Jahrzehnte will man das noch wiederholen, ohne kritisch an die Fehler der Vergangenheit auch bei der Schulpolitik heranzugehen ? Besteht eigentlich Einigkeit, was GUTER Unterricht genau ist? Warum produzieren wir denn bei den Abiturienten (und vielleicht auch bei den Bachelor-Absolventen) Quantität statt Qualität, indem schon beim Übergang in die Oberstufe die Ansprüche abgesenkt werden ? Auch noch so viel fortgebildete Lehrer können bei schwachen Schülern keine Wunder bewirken und die Professoren nicht bei fachlich schwachen Studenten.