Veröffentlicht am 25.03.19

Selbstreferentialität: Schule ist nicht für die Schüler da, sondern für die Schulinspektion – zumindest in Berlin

Ein Gastbeitrag von Jochen Ring; Erschienen in: Blick ins Gymnasium, März 2019 (Nr. 318)

 

Dass Berlin ein, wie es jüngst ein deutsch-polnischer Publizist bezeichnete, „gescheiterter Staat“ sei, legen die vielen Negativrekorde nahe, die dieses Bundesland unter anderem in den Bereichen Investitionen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Unterrichtsversorgung verzeichnet. Insbesondere der Schul- und Bildungsbereich beziehungsweise die ihn verwaltende Behörde ist als Sumpf tiefster Unfähigkeit oder Unwilligkeit verschrien, und wer wie ich als Delegierter bei der letzten Vertreterversammlung des DPhV den Zynismus und die  Arroganz des Berliner Bildungsstaatssekretärs Mark Rackles gegenüber dem Deutschen Philologenverband erleben durfte, hat auch eine gewisse Ahnung, warum Berlins Schulen auf der Stelle treten. Ein schönes Lehrstück dafür, wie Bildungspolitik in Berlin funktioniert, konnte kürzlich mehreren überregionalen Zeitungen entnommen werden, die über eine für das Bundesland gänzlich untypische Schule berichteten.

 

Phönix aus der Asche – was ein Schulleiter zu bewirken vermag

Es handelt sich dabei um die Bergius-Schule in Berlin-Friedenau, die 2005 geschlossen werden sollte, dann aber unter der Leitung des damals neu berufenen brennpunktschulenerprobten Rektors Michael Rudolph eine neue Chance erhielt und sich innerhalb weniger Jahre vom Problemfall zur Vorzeigeschule mauserte. Trotz äußerst schwieriger Rahmenbedingungen (hohe Quoten von Schülerinnen und Schülern, die einen diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf haben oder aus bildungsfernen Familien stammen) gelang Rudolph das Unmögliche: Die in ihrem Bestand einst bedrohte Sekundarschule ohne gymnasiale Oberstufe erfreut sich mittlerweile ungeahnter Beliebtheit, so dass Bewerber abgewiesen werden müssen; im Vergleich zu den anderen Einrichtungen dieser Art erwerben viele Abgänger einen Bildungsabschluss, davon eine ungewöhnlich hohe Zahl mit Gymnasialempfehlung; Absolventen erhalten schnell einen Ausbildungsplatz; schwedische (!) Journalisten suchen vor Ort das Geheimnis des Erfolgs dieser Schule zu ergründen, um daraus Rezepte für einen Wiederaufstieg aus dem jüngsten PISA-Desaster in der Heimat ableiten zu können.

Nun sollte man glauben, dass man sich in Berlin angesichts der Tatsache, dass in dieser Stadt auch einmal etwas gelingt, gegenseitig auf die Schulter klopft und ein wenig stolz auf das Erreichte ist; doch weit gefehlt, denn dann hätte man die Rechnung ohne den Wirt, der in diesem Fall den Namen „Schulinspektion“ trägt (und im Unterschied zu Rheinland-Pfalz noch nicht in den Ruhestand verabschiedet wurde) gemacht. Bevor hier allerdings die Evaluationsergebnisse der Berliner Schulinspektion für die betreffende Bildungsanstalt skizziert werden, soll aus dem dortigen Geschehen vorrangig Nutzanwendung zur Veranschaulichung der unter anderem von Niklas Luhmann formulierten und völlig zu Unrecht als alltagsfern diffamierten Systemtheorie gezogen werden.

 

Systemtheorie für Anfänger

Genauso wie sich ‚die Gesellschaft‘ insgesamt ausdifferenziert (hat), finden entsprechende Prozesse in ihren Subsystemen statt, und der Bereich der institutionalisierten Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen ist ein solches. In diesem Komplex wiederum hat  sich in manchen Bundesländern neben Schule, Lehrer(aus)bildung und Schulverwaltung auch die Schulinspektion (unter Bezeichnungen wie AQS, Schul-TÜV, Bildungsevaluationsagentur etc.) als relativ selbständige, mit anderen Worten: autonome Organisation herausgebildet. Wie jedes andere Teilsystem auch kann dasjenige der „Schulinspektion“ als autopoietisch charakterisiert und mit den Begriffen „Selbstreferenz“ und „operationale Geschlossenheit“ assoziiert werden. Selbstbezüglichkeit ist dem Erziehungssystem auf dem Weg in die Moderne insofern mitgegeben, als „die festen Vorgaben, die die Erziehung an der traditionellen Gesellschaft gefunden hatte, […] sich aufgelöst [hatten]. Die Aufgaben der Erziehung konnten jetzt nur noch durch das Erziehungssystem selbst bestimmt werden. Das Erziehungssystem fand sich gewissermaßen in die Autonomie verstoßen […]“ (Luhmann  2002, S. 18). Eine solche Autonomie hat jedoch auch notwendigerweise die Schulinspektion herausgebildet. Aus systemtheoretischer Perspektive ist es daher nur konsequent, wenn deren Mitarbeiter auf die Rechtfertigung des von ihnen kritisierten Schulleiters, er habe Schülerinnen und Schüler zu objektiv messbaren Höchstleistungen herangeführt,  mit nur auf den ersten Blick erstaunlichen Worten antworten: „Das ist egal“. So sehr uns diese Antwort verblüffen mag und so wenig wir im ersten Moment nachvollziehen können, dass der von Michael Rudolph geleiteten Schule „erheblicher Entwicklungsbedarf“  attestiert wird, so unausweichlich folgt dieses Verdikt aus systemtheoretischer Logik mit dem ihr eigenen Fokus auf Autonomie und Selbstreferentialität.

 

Zurück in die Praxis

Nicht geklärt ist bislang das deutliche Auseinanderklaffen der konkreten Beurteilungen von Schulinspektion auf der einen und Schulleiter, Eltern, Schülerinnen, Schülern sowie  Journalisten auf der anderen Seite. Dies kann jedoch schnell nachgeholt werden. Die Kriterien für eine gute Schule im Sinne der Berliner Schulinspektion verdanken sich nämlich weder einem humanistischen Bildungsideal noch einer im kruden Alltag als notwendig präsumierten Tauglichkeit der Absolventen für den Arbeitsmarkt, sondern einer mehr oder weniger selbstreferentiellen Setzung von Maßstäben, die, so ist zu vermuten, in zahllosen und sehr langen Gremiensitzungen und mit einem gewissen Bezug auf einschlägige Publikationen von Pädagogik-Professoren, die gerade en vogue sind, von den Beschäftigten der Schulinspektion aufgestellt wurden. Was eine gute Schule ausmacht, definiert sich daher auf der Grundlage eines Kompromisses und einer Kumulation von Moden, wie sie im Einklang mit den Vorlieben des Zeitgeistes den Schulinspekteuren bei ihren Zusammenkünften gerade in den Sinn gekommen sind. Somit resultiert der „erhebliche Entwicklungsbedarf“ der Bergius-Schule aus einem Mangel an denjenigen Aspekten, die einer solchen institutionellen Setzung entsprungen sind und eine politische Legitimierung durch die Kultusbürokratie erfahren haben.

 

Und wir?

Das Schlechteste, was eine rheinland-pfälzische Lehrkraft bei der Lektüre über Berliner Verhältnisse nun tun könnte, bestünde darin, sich mit wohligem Gruseln im Sessel zurückzulehnen und beruhigt zu denken, dass das betreffende Bundesland mit dem ihm von seinem Ex-Bürgermeister attestierten Sex-Appeal weit weg sei. Mitnichten, denn so manche Kritik, die an der Bergius-Schule seitens der Schulinspektion geübt wurde, klingt doch erstaunlich vertraut. Die genannte Einrichtung, so die Vorwürfe, betreibe keine „Individualisierung von Lernprozessen“, „[schöpfe] die Potentiale der Schülerinnen und Schüler nicht aus“, vernachlässige die „Kompetenzorientierung“ (insofern nämlich, als sie den auf dem Arbeitsmarkt gesuchten Kompetenzen den Vorzug gibt gegenüber denjenigen, die Bildungswissenschaftler für wichtig erachten) und produziere viel zu wenig von den Papieren und Programmen, die Schulleiterinnen und Schulleiter sich mittlerweile auch in Rheinland-Pfalz der Schulaufsicht anlässlich von Zielvereinbarungsprozessen abzuliefern genötigt sehen. Die schlimmste Todsünde begehe die gerügte Schule aber dadurch, dass der zweifellos erfolgreich stattfindende Wissenserwerb und Ausbau von Fähigkeiten bei den Schülerinnen und Schülern viel zu sehr im Frontalunterricht erfolge, was im Gegensatz zu dem unhinterfragt  geltenden Axiom der Selbstzweckhaftigkeit von alternativen Unterrichtsformen steht.

 

Trost?

Für den in dieser Situation (noch) nicht so Hartgesottenen, in die schulische Bildung Involvierten mag die Gelassenheit, die Luhmanns Untersuchungen in der einen oder anderen Formulierung ausstrahlen, einen Trost darstellen. Mit einem kurzen Auszug aus seinen deskriptiven Analysen bezüglich der im Bildungswesen durchgeführten Reformen möchte ich enden: „Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, daß das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist. Reformen wären danach sich selbst generierende Programme für die Veränderung der Strukturen des Systems.“ (Luhmann 2002, S. 166). Sobald wir Lehrkräfte diesen Mechanismus durchschaut haben, können wir wie Schulleiter Michael Rudolph mit einer gewissen Nachsicht die behördlichen Zumutungen ertragen und währenddessen einfach gute Arbeit leisten – zugunsten von Schülerinnen und Schülern.

 

Quellen:
Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002.
morgenpost.de, 04.07.18
Berliner Woche vom 10.07.2018
tagesspiegel.de, 19.08.18
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.08.2018, S. 3.

 

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