Veröffentlicht am 14.03.13

Das „Musterländle“ auf schulpolitischen Abwegen

In bundesweiten Vergleichen stand Baden-Württemberg immer gut da, auch in Sachen Bildung. Ob PISA, TIMSS oder IGLU – in allen Studien schneiden baden-württembergische Schüler überdurchschnittlich ab. Die Kultusminister haben diese Ergebnisse jeweils zum Anlass genommen, sich selbst und ihre Politik ein wenig zu loben – wer will es ihnen verdenken – und gleichzeitig Reformen auf den Weg zu bringen, die – in manchen Fällen mehr, in anderen weniger – geeignet waren, die festgestellten Defizite zu beheben. Im Rückblick und mit ein wenig Abstand stellen sich die Dinge oft klarer dar: die Reformen der letzten zehn Jahre haben zu keinen wesentlichen Verbesserungen geführt, sie haben aber auch keinen großen Schaden angerichtet. Und im Lichte der aktuellen Entwicklungen ist das eine Leistung.

Die grün-rote Landesregierung hat, kaum war sie an der Macht, so viele Reformen angekündigt und angestoßen, dass die Mitarbeiter des Ministeriums den politischen Vorgaben nur noch hinterher hecheln können. Die Folge sind Verwirrung und Verunsicherung auf allen Ebenen. Und dass der neue Kultusminister mehr Gelassenheit ausstrahlt, als seine Vorgängerin, ist zwar begrüßenswert, stoppen jedoch kann und will er die Welle nicht. Wie genau die Schäden aussehen werden, die diese Reformflut anrichten wird, und wer sie zu beklagen haben wird, das kann aktuell noch niemand absehen, aber dass sie Schäden anrichten wird, darüber gibt es keinen Zweifel.

Auch wenn es zunächst nicht danach klingen mag, die hier vorgetragene Kritik ist nicht politisch motiviert, sondern zielt auf die Sache. Sie ist kein bloßer Reflex auf die aktuellen Entwicklungen, der sich nährt aus der Angst um Pfründe. Die Kritik richtet sich gegen ein Vorgehen, das geprägt ist von Dogmatismus und Dilettantismus und bei dem die ursprünglichen Ziele – mehr Bildungsgerechtigkeit und größere Lernerfolge – in den Hintergrund getreten sind.

Gleich mehrere Aspekte der Reformpläne geben Anlass zu Sorge und Kritik: weder SPD noch Grüne hatten vor Beginn ihres Regierungsantritts ein konkretes und finanzierbares Konzept zur Umsetzung ihrer bildungspolitischen Ziele. Sie wollten jedoch ihr Wahlversprechen möglichst rasch auf den Weg bringen und durch die Gründung erster Gemeinschaftsschulen Fakten schaffen. Wie genau ein gerechterer und besserer Unterricht in diesen Gemeinschaftsschulen aussehen sollte, blieb jedoch unklar. Statt zu schauen, wie es um ähnliche Projekte in anderen Bundesländern steht (so z.B. in Hamburg und Schleswig-Holstein), statt renommierte Bildungsexperten und Didaktiker zu befragen und statt auf die Erfahrungen an den Grundschulen zurückzugreifen, kaufte das Ministerium die zweifelhafte Expertise eines Schweizer Bildungsunternehmers namens Peter Fratton ein und nahm sich von ihm gegründete Privatschulen zum Vorbild für die Gemeinschaftsschule in Baden – Württemberg.

Nachdem die Landesregierung dann überwiegend in ländlichen Gegenden Haupt- und Realschulen gefunden hatte, die sich bereitwillig in Gemeinschaftsschulen umbilden ließen, weil sie dadurch ihre Auflösung verhinderten, konnte sie nach gut einem Jahr einen ersten Erfolg in der Bildungspolitik vermelden: 42 Schulen in Baden–Württemberg wurden zum Schuljahresbeginn 2012 Gemeinschaftsschulen. In nahezu allen Fällen handelt es sich lediglich um eine Umetikettierung und den einzelnen Schulen fehlt es an Konzepten, wie sie individuelles Lernen realisieren und dafür sorgen sollen, dass Kinder bestmöglich gefördert werden. Insbesondere die Ankündigung des Ministeriums, die Gemeinschaftsschule setze auch Bildungsinhalte aus dem Gymnasium um, bleibt in den allermeisten Fällen völlig unberücksichtigt. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, sind die allermeisten Lehrer an diesen Schule doch Haupt- und Realschullehrer und haben mit gymnasialer Bildung bisher keine Erfahrung.

Warum wird das Konzept der Gemeinschaftsschule dennoch in den Medien überwiegend positiv dargestellt und findet in weiten Teilen der Bevölkerung Zustimmung?

Dazu tragen im Wesentlichen zwei Faktoren bei: erstens wird das Konzept von Herrn Fratton selbst wie auch vom Ministerium sehr professionell vermarktet und zweitens wirkt das Versprechen von mehr Bildungsgerechtigkeit und individueller Förderung auf viele Menschen höchst attraktiv.

Die Bildungsunternehmer aus der Schweiz – neben Peter Fratton gibt es zwei weitere Akteure, die im Moment die Deutungshoheit über Bildung in Baden-Württemberg für sich in Anspruch nehmen: Andreas Müller aus Beatenberg und Christoph Bornhauser aus Romanshorn – haben im Kultusministerium und in vielen Kommunen und Schulen unkritische Abnehmer ihrer Ideen gefunden, die nicht nur viel Geld bezahlen für Vorträge und Beratung, sondern auch noch versuchen, diese Ideen umzusetzen.

Ein wesentliches Element der Vermarktung ist die Abgrenzung der Gemeinschaftsschule von bestehenden Schulformen. So werden tragende Elemente traditionellen Unterrichts wie Noten, Lehrervorträge oder Klassenuntericht als veraltet und wirkungslos diffamiert, um ihnen dann Konzepte wie Lernbegleiter, Lernjobs und selbstgesteuertes Lernen entgegenzusetzen. Bestehende Bildungseinrichtungen, insbesondere das Gymnasium, werden pauschal abgestempelt zu Anstalten, in denen Schülern im Eiltempo und Gleichschritt unter enormem Druck Wissen eingetrichtert wird. Dass dieses Bild nicht der Wirklichkeit entspricht, darüber sind sich die Protagonisten der Gemeinschaftsschulbewegung wahrscheinlich im Klaren. Aber sie brauchen dieses Bild, um ihre Ideen wirkungsvoller vermarkten zu können. Umso attraktiver wirken dann die Versprechungen, die z.B. in der Hochglanzbroschüre des Ministeriums zur Gemeinschaftsschule gemacht werden. Dort steht zu lesen:

„Alle Menschen, die in einer Gemeinschaftsschule lernen und arbeiten, werden erleben, wie positiv und bereichernd Unterschiedlichkeit sein kann.“

„Lernen findet in der Gemeinschaftsschule nicht dadurch statt, dass man streng und linear einen Fuß vor den anderen setzt, sondern es ist erlaubt und gewünscht, hin und wieder schnell zu laufen, langsam zu gehen, neugierig stehen zu bleiben oder gut gelaunt hin und her zu springen.“ (http://www.kultusportal-bw.de/servlet/PB/show/1376626/Broschuere_Gemeinschaftsschule.pdf)

Schule als soziales Paradies darzustellen und Lernen als eine Mischung aus Trendsportart, Wellnessprogramm und Selbstfindungsprozess zu beschreiben, ist schlichtweg unehrlich. Aber genau das tut das Ministerium.

Auch wenn wir uns als Eltern und Lehrer vielleicht nach einer solchen Schule sehnen, wissen wir doch alle, dass Lernen oft auch ein mühsamer Prozess ist und dass die Gegenstände nicht immer interessant sind. Genau das wird aber ausgeblendet. Uns wird in diesen Vorträgen und Broschüren eine Welt des Lernens vorgegaukelt, die es nicht geben kann. Egal, ob man eine Schule Gemeinschaftsschule oder Realschule oder Gymnasium nennt. Das bedeutet keinesfalls, dass wir nicht Verbesserungen am bestehenden System anstreben sollten. Aber Verbesserungen stellen sich nicht ein, indem man Szenarien entwirft, die es nicht geben kann.

Der Skandal besteht nun nicht nur darin, dass das Ministerium bei der Ausarbeitung und Umsetzung des Konzepts „Gemeinschaftsschule“ gezielt die Fachleute an den Lehrerseminaren und an den Universitäten umgeht und stattdessen für teures Geld Konzepte aus dem Privatschulbereich einkauft, sondern auch darin, dass das Ministerium diese Konzepte offenbar völlig unkritisch übernimmt. So wird – ohne dass dafür bisher der geringste Beleg erbracht worden wäre – vom Ministerium in einem offiziellen Informationspapier zur Gemeinschaftsschule behauptet: „Die Gemeinschaftsschule ist eine leistungsstarke und sozial gerechte Schule.“ sowie „Individuelles und kooperatives Lernen in heterogenen Lerngruppen führt zu bestmöglichem Bildungserfolg.“ (http://www.kultusportal-bw.de/servlet/PB/show/1380290/2012-10-18_Informationspapier.pdf) Wenn dem so wäre, dann müssten die Schülerinnen und Schüler der Freien Schule Anne-Sophie in Künzelsau in Realschulprüfungen und im Abitur überdurschnittlich abschneiden. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Fragt man bei der Schule nach den Prüfungsergebnissen der Schüler, erhält man ausweichende Antworten, konkrete Zahlen sind bisher nicht veröffentlicht.

Sich die Expertise von Bildungsunternehmern einzukaufen und deren Privatschulen zum Vorbild zu nehmen für die Gemeinschaftsschule erscheint dilettantisch und verantwortungslos zugleich. Jedem, der sich nur die Internet-Auftritte der Modellschulen in Beatenberg / Schweiz (http://www.institut-beatenberg.ch/ ), in Romanshorn / Schweiz (http://www.sbw.edu/) sowie im hohenlohischen Künzelsau (http://www.freie-schule-anne-sophie.de/home.html) ansieht, fällt sofort auf, dass diese Einrichtungen mit staatlichen Schulen in Baden-Württemberg schlichtweg nicht vergleichbar sind und auch nie vergleichbar sein werden. Wer von jedem Schüler € 5000.- Schulgeld nimmt, kann leicht behaupten, der „Raum (sei) der dritte Pädagoge“, und kann problemlos dafür sorgen, dass jedem Lehrer immer eine weitere Person zur Seite steht, die sich um einzelne Schüler kümmert. Sich solche Schulen zum Vorbild zu nehmen und gleichzeitig einen ausgeglichenen Haushalt anzustreben ist höchst widersprüchlich.

Das Konzept der Gemeinschaftsschule erfreut sich auch deshalb so großer Beliebtheit, weil es gezielt Wünsche bedient, die in den letzten Jahren immer lauter von Eltern und Bildungspolitikern geäußert worden sind: der Wunsch nach einer Schule, die zugleich Lebensraum ist und der Wunsch nach einer Schule, an der die Kinder ohne den Stress von G8 die gleichen Lernerfolge erzielen, wie in G8. Und genau diese Art von Schule haben die Protagonisten des Gemeinschaftsschulkonzeptes in den letzten Monaten gebaut – nicht aus Stahl und Stein und nicht mit echten Kindern und echten Lehrern in echten Unterrichtsstunden, sondern aus bunten Bildern und klingenden Begriffen, in Power-Point-Präsentationen, in Videos, in Vorträgen und in Zeitungen, die noch nicht erkannten haben, dass es sich bei dem Trend um nicht mehr als die Dampfplauderei von selbsternannten Propheten handelt.

Es ist allzu verständlich, dass sich Eltern eine solche Schule wünschen. Zu erreichen ist diese Art von Schule aber nicht durch eine bloße Umetikettierung von Schulen und eine gezielte Diffamierung von lehrergelenktem Unterricht. Lehren und Lernen gegeneinander auszuspielen und Lehrer als Ewig-gestrige hinzustellen, die das Lernen der Schüler verhindern, ist unseriös. Erreichen lassen sich die Ziele nur durch eine vernünftige Personalpolitik an den Schulen, durch gezielte und kontinuierliche Fortbildungsmaßnahmen und durch weitere Verbesserungen in der Lehrerausbildung.

Schaut man sich die Pläne des Ministeriums zur künftigen Lehrerbildung an, dann findet man jedoch Folgendes: Lehrerinnen und Lehrer an Gemeinschaftsschulen sollen nach und nach zu sogenannten Lernbegleitern umgebildet werden. Die Ausbildung zum Lernbegleiter ist dabei nicht vergleichbar mit einer herkömmlichen Fortbildung, sondern hat den Charakter einer Umerziehungsmaßnahme. Denn hinter dem Begriff „Lernbegleiter“ steht eine völlig veränderte Lehrerrolle, die sich ableitet aus der Denkrichtung des Konstruktivismus und der Annahme, dass man Kindern grundsätzlich nichts beibringen könne. Nicht der Lehrer soll zukünftig maßgeblich verantwortlich sein für die Lernfortschritte seiner Schüler, sondern die Schüler selbst. Die Rolle des Lehrers soll sich beschränken auf das Begleiten der Schüler.

Diese Neudefinition der Lehrerrolle widerspricht jedoch nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch eklatant allen Forschungsergebnissen zu Unterrichtserfolg. Erst 2009 hat der Neuseeländer John Hattie in einer Zusammenfassung von 800 Metastudien nachweisen können, dass erfolgreiches Lernen ganz Wesentlich vom Lehrer abhängt. Andere Faktoren wie Klassengröße, Ausstattung der Zimmer oder Einsatz moderner Medien spielen eine völlig untergeordnete Rolle. Erst in den letzten Monaten ist diese mit Abstand umfangreichste Studie über schulisches Lernen in Deutschland bekannt geworden und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich (z.B. http://www.visiblelearning.de/john-hattie-interview-visible-learning/ und http://www.zeit.de/2011/45/C-Lehrer-Studie/seite-1).

Was genau erfolgreiche Lehrer von weniger erfolgreichen unterscheidet, wird in Hatties Studie im Detail beschrieben und lässt sich in einem Handbuch nachlesen, das Hattie speziell für Lehrer geschrieben hat (Visible Learning for teachers). Hatties Studie – wie auch viele andere Studien – liefern Belege dafür, dass nicht Strukturen wie etwa Schularten über schulischen Erfolg entscheiden, sondern dass schulischer Erfolg im Wesentlichen davon abhängt, ob ein Lehrer gut oder schlecht ist. Diese Erkenntnis deckt sich mit den Erfahrungen der allermeisten Schüler und erscheint vielen wahrscheinlich als banal. Umso überraschender ist es, dass das Kultusministerium bei der Umgestaltung der baden-württembergischen Bildungslandschaft diese Erkenntnisse genauso ignoriert, wie Erfahrungen aus anderen Bundesländern.

Die Gemeinschaftsschule als Schulart, als Ersatz für ehemalige Hauptschulen, Werkrealschulen und Realschulen wird ohne Zweifel eine Zukunft haben. Dafür werden die Gemeinden sorgen. Dass die ideologische Form der Gemeinschaftsschule aber ein Erfolgsmodell werden wird, das ist kaum vorstellbar. Auf lange Sicht zählen eben nicht Hochglanzbroschüren und Power-Point-Vorträge, sondern Schülerleistungen. Und die hängen massiv von guten Lehrern ab, die schülerzentriert und lehrergelenkt unterrichten, aus der Überzeugung heraus, Verantwortung zu tragen für den Lernerfolg ihrer Schüler.