Veröffentlicht am 16.07.13

Bildung: Respekt vor der Freiheit

Von Axel Bernd Kunze

Je mehr höhere Abschlüsse, desto besser für das Land – so die einfache Formel. Käme es allein darauf an, dürfte Deutschland nicht schon länger Exportweltmeister sein. „Produktion“ und Verteilung von Wissen sollen demokratisiert werden. Die baden-württembergische SPD will künftig für fünfzig Prozent eines Jahrgangs einen Studienabschluss, und zwar zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Das hört sich gut an. So wird kaum nachgefragt, wie eine solche Bildungsplanwirtschaft ihre Erfolgszahlen in die Höhe schraubt und ob die Abschlüsse noch halten, was sie versprechen.

Das Gymnasium ist vielfach zur Gesamtschule geworden. Der im Bolognaprozess eingeführte Bachelor stellt keinen akademischen Studien-, sondern berufsqualifizierenden Ausbildungsabschluss dar. Folgerichtig stellt der Deutsche Qualifikationsrahmen berufsbildende Fachschulabschlüsse dem Bachelor an Fachhochschulen und Universitäten gleich. Akademische Berufe verlangen in besonderer Weise Freiheit im Denken und Handeln, Entscheidungsfähigkeit, Führungsstärke und Eigenverantwortung. Das wertet berufsbildende Abschlüsse nicht ab. Doch werden die abgesenkten Erwartungen an einen akademischen Titel für Kultur und Leistungsfähigkeit des Landes nicht folgenlos bleiben.
Niemand nimmt an, der Einheitsmediziner könnte leistungsfähiger sein als ein spezialisiertes Facharztsystem. Länger gemeinsam lernen, Gemeinschaftsschule, Einheitslehrer, Diversity und Inklusion heißen jedoch die Zauberwörter der neuen „Bildungsrepublik“. Wie ein Lehrer unterrichten soll, wenn die Vielfalt in einer Klasse nahezu beliebig wächst, bleibt praktisch zumeist offen. Anhängern eines inklusiven Bildungssystems geht es auch weniger um schulische Leistung und damit die spätere Leistungsfähigkeit des Landes als um ein neues Bewusstsein, das in den Köpfen verankert werden soll. Das Bildungssystem verkommt zur Spielwiese sozialromantischer Gesellschaftsreform.

Jede organisatorische Lösung im Bildungssystem wird ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bleiben. Den heterogenen Voraussetzungen, Bedürfnissen und Interessen der Einzelnen wird nicht ein gleichförmiges, sondern ein plurales, durchlässiges und korrekturoffenes Bildungswesen am besten gerecht, in dem Zugänge nicht willkürlich beschränkt werden, zielgenaue Förderangebote bestehen und gleichzeitig individuelle Leistung gerecht honoriert wird. Ein Bildungssystem, das Leistungsunterschiede nivelliert, „soft skills“ vor Fachwissen setzt und alle über einen Kamm schert, ist weder wirtschaftlich klug noch sozial gerecht. Schnell werden sich neue leistungsunabhängige Differenzierungsmechanismen ausbilden.

Der freiheitliche Staat kann nicht erzwingen, wie der Einzelne seine Chancen zur Bildung nutzt. Heranwachsende müssen erzieherisch herausgefordert werden, etwas aus sich zu machen. Gerade die Erziehungsaufgabe leidet seit Jahren unter dem Stress bildungspolitischer Dauerreformen, ohne dass deren pädagogischer Wert immer hinreichend klar wäre. Im Bildungssystem wird gemessen, verglichen, evaluiert – und reformiert. Aber nicht radikale Strukturreformen, sondern die Persönlichkeit des Lehrers ist entscheidend für pädagogischen Erfolg, wie Hatties breite Metastudie „Visible Learning“ jüngst bestätigt hat. Lehrer brauchen für ihre schwieriger gewordene Aufgabe wieder mehr Vertrauen, Rückhalt und Unterstützung – von Eltern und Gesellschaft, Politik und Wissenschaft gleichermaßen. Die pädagogische Beziehung darf nicht durch politische, rechtliche oder sozialstaatliche Zwecke überlagert werden.

Der vorherrschende Egalitarismus in der Bildung gängelt und demotiviert. Das beste Fundament eines erfolgreichen Bildungssystems aber ist der Respekt vor individueller Freiheit. Diese für Lehrende wie Lernende wieder stärker einzufordern, wäre eine dringende bildungsethische Aufgabe.

Der Beitrag erschien unter dem Titel „Bildung: Respekt vor der Freiheit“ in: Die Tagespost, Nr. 72 vom 15. Juni 2013/Nr. 24 ASZ.