Veröffentlicht am 16.07.20

Schule und Bildung in Pandemie-Zeiten

Ein Beitrag von Eberhard Keil

Home Schooling statt Schule?

In den ersten Monaten der Pandemie konnte man glauben, dass es sich bei dem Gros der Bildungspolitiker fast aller Parteien um Lobbyisten und Angestellte der großen IT-Konzerne handele, welche die junge Bevölkerung mit digitalen Endgeräten zu überhäufen, den Lehrern digitale Fortbildungen und Rechenschaftspflicht über Fernunterricht aufzuerlegen und den Staat zum massiven Netzausbau zu veranlassen suchen. „Wie gestalten wir Fernunterricht, […] damit Schüler auch einen Mehrwert durch digitales Lernen haben?“ (KM Susanne Eisenmann, StN 4./5.7.20) „Das ist existenziell in Krisenphasen, in denen uns zum Beispiel eine Pandemie zum Schließen der Schulen zwingt.“  Bis hierhin bewegte sich die baden-württembergische Kultusministerin in der zwar irrigen, aber immerhin logisch nachvollziehbaren Argumentation, „Home Schooling“ in Analogie zum „Home Office“ als Schul-Ersatz während der Corona-Krise zu betreiben. Doch im nächsten Satz des Interviews rutschte ihr eine Freud’sche Fehlleistung heraus, welche schlagartig ihre Vorstellungswelt – wohl auch die ihrer meisten Kolleginnen und Kollegen – erhellte: „Aber es ist auch langfristig wichtig, weil hier die Zukunft des Lernens liegt.“

Inzwischen ist klar, dass selbst das „Home Office“ nur eine – durchaus sinnvolle -Ergänzung, aber kein vollwertiger Ersatz der Arbeit in der analogen Unternehmenswelt sein kann, wohingegen die Ergebnisse des „Home Schooling“ um ein Vielfaches trister ausfallen: Für Großbritannien meldet der „Guardian“, dass 40% der Schüler auf diesem Weg überhaupt nicht erreichbar waren, in Deutschland gilt 20% Unerreichbarkeit schon als sehr gute Quote, deren Gegenstück bei 80% liegt, also im Mittel wohl auch der britischen Größenordnung entspricht. Der Tübinger Schulforscher Ulrich Trautwein: „Besondere Sorgen bereiten die ohnehin leistungsschwächeren Schüler, aber auch die Hochbegabten wurden vielleicht weniger als nötig gefördert.“ (StN 25.6.20) Er hätte klärend hinzufügen müssen, dass auch der Rest „vielleicht“ weniger gelernt hat, um eine wissenschaftlich unumstößliche – wenn auch unnütze – Wahrheit zu formulieren. Auf dem Wege persönlicher Erfahrung sind die Eltern auf breiter Front längst zu einer ziemlich kategorischen Ablehnung des bisher praktizierten „Fernunterrichts“ gelangt und die von ihnen geforderte Rückkehr zum Schulunterricht wird von den Wirtschaftsunternehmen geteilt, weil durch die häuslich-familiären Nebenwirkungen des Digitalunterrichts auf Arbeit und Präsenz ihrer Beschäftigten massive Kollateralschäden zu konstatieren sind.

Ein Mehr an digitaler Ausstattung, wie dies alle Kultusminister in den Fokus rücken, kann das Problem der virtuell-technischen, zweidimensionalen Distanz an Stelle der physisch-menschlichen, dreidimensionalen Nähe beim Lernen von Kindern und Jugendlichen nicht lösen. Der Strategie der Schlimm-Besserung liegt zunächst einmal ein völlig unpädagogisches Denken zugrunde, welche die Arbeitswelt der Erwachsenen auf die Entwicklung von Jugendlichen überträgt und dabei auch noch Bildung mit Ausbildung verwechselt. Im Zwischenbereich der Erwachsenenbildung sowie der beruflichen Aus- und Fortbildung konnte Fernunterricht selbst auf bescheidenster technischer Grundlage schon seit Langem beachtliche Ergebnisse hervorbringen, aber gerade deshalb darf man nicht der Illusion aufsitzen, dies lasse sich auf Bildung und Erziehung im Schulalter übertragen. Im Übrigen stellte vor längerer Zeit in Tübingen das DIFF – Deutsches Institut für Fernstudien – auch für erwachsene Fernlerner eine relevante „Drop-out-Quote“ fest, obwohl diese mit einem gewissen Ziel vor Augen eher selbstständig lernen.

Dem Engagement fürs Digitale steht ein vollkommenes Defizit an substanzieller Reflexion gegenüber: Woher nimmt man sich das Recht, in den privaten Bereich der Familien einzudringen – mit Ton, Bild, Papier, mit Mikrofon und Kamera? Mit welchen Recht macht man Eltern, vor allem Mütter, zu Hilfslehrern, Lernbegleitern? Wie geht man mit der digitalisierten Suchgefahr für Kinder und Jugendliche um – mit Schlafstörungen (ca. 30%), massiven Einschränkungen der motorischen (ca. 40%) und sprachlichen Entwicklung (über 50%), mit Sozialisierungsmängeln u.v.a.m.? Als erster fehlerhafter Reflex auf die pandemiebedingten Schulschließungen zwar verständlich sollte der digitale Nürnberger Trichter den Erwerb und die Einübung jenes Wissens und jener „Kompetenzen“ sicherstellen, welche sich in den Bildungsplänen der letzten beiden Jahrzehnten angesammelt hatten. Es ging also – wie in diesen Bildungsplänen selbst – vorrangig um eine Methodik der Vermittlung. Deren einfachste und belastendste Variante war die Erstellung und Verteilung von Arbeitsmaterialen für das sogenannte Selbstlernen, woran die meisten Eltern verzweifelten, zumal es wochenlang in vielen Fällen dazu kaum Rückmeldungen gab. Die technisch anspruchsvollere Variante basierte auf Video- und Konferenzsoftware – Normalität: die Panne – mit einer Rückkehr zu striktem – bisher verpönten – Frontalunterricht, für dessen motivierende und dialogisierende Varianten (Lehrervortrag, fragend-entwickelndes Verfahren, Unterrichtsgespräch) ein Großteil der Lehrer nicht mehr ausgebildet worden war. Untersuchungen ergaben, dass vor allem die pubertierenden Jahrgänge auf den eingeschalteten Tablets und Laptops dann doch lieber Spielprogramme, streaming und anderes daddelten – eine Quelle zusätzlichen Familienzwists.

 Bildung statt Ausbildung

Das Verschwinden von pädagogischen und didaktischen Herangehensweisen zugunsten einer bloßen Methodik der Vermittlung sowie Einübung technischer Apparaturen lässt sich zeitlich auf die 90er Jahre und einen neoliberal ökonomistischen Paradigmenwechsel durch den Einfluss von Wirtschaftslobbyisten (Olaf Henkel, BDI, OECD) und die unheilige Allianz von Wirtschaft (Daimler, Siemens, Bertelsmann) und Politik (Annette Schavan u.a.) zurückführen: „Ausmisten“ bzw. „Abwerfen von Bildungsballast“, „Methoden statt Inhalte“, „Kompetenzen“, statt strukturierter und hierarchisierter Lernziele, „Lernbegleitung“ statt Unterricht, dazu ein skurriles Konglomerat an Selbstlern-Mythen (z.B. die „Autagogik“ /Peter Fratton, Andreas Müller). Immer fanden sich von der Politik und Wirtschaft geförderte und protegierte „Pädagogen“, welche in diesem Prozess die Stichworte lieferten und Karriere machten, anstatt Kinder und Schule gegen solcherlei Instrumentalisierung zu verteidigen.

Unter die Räder geriet dabei die klare Unterscheidung von Bildung und Ausbildung und damit die Besinnung auf die Aufgaben der Schule in einer aufgeklärten Gesellschaft.

Bildung zielt auf die souveräne Teilhabe an der Welt, auf die Entfaltung und die Autonomie der Persönlichkeit, auf verantwortliche Selbstständigkeit. Wie Hartmut von Hentig  formulierte, muss sie „die Menschen stärken, die Sachen klären“. Die Aufgabe des Staates und der Schulen zielt also auf ein (nicht nur) intellektuelles Potenzial an Wissen, Verstehen und Selbstbewusstsein. Bildung ist Selbstzweck der Persönlichkeit in einer humanen, freien und demokratischen Gesellschaft.

Ausbildung dagegen zielt auf Anpassung an die Notwendigkeiten der Berufswelt, auf „Kompetenzen“ im Umgang mit ökonomisch relevanten Sachverhalten, also ARBEIT. Die Arbeit, die Sache, bestimmt die Ausbildung. Sie ist Mittel zum ökonomischen Zweck, zur nützlichen Tätigkeit in Institutionen und Unternehmen, und liegt in erster Linie in deren Verantwortungsbereich.

Natürlich gibt es Überschneidungen und Grenzbereiche, weil die Welt in allen Facetten – auch den ökonomischen, beruflichen – Teil von Bildung ist und weil ohne freies, kreatives, vertieft sinnreiches Denken auch das zweckgebundene und auf Nutzen zielende Denken scheitern würde. Keine Ausbildung ohne ein Minimum an Bildung. Keine Bildung ohne Ausbildung von Grundfertigkeiten. Dennoch: Bildung ist gegenüber der Welt ein offener Prozess, Ausbildung dagegen ein fremdbestimmter, definierter, also begrenzter Vorgang.

Das pädagogisch-didaktische Elend unserer Zeit zeigt sich in der Dürftigkeit der Reaktionen auf die Corona-Pandemie: Erst der Ruf nach Technik, Tablets, Internet, dann dieselbe Ignoranz hinsichtlich der fast ausschließlich organisatorisch-hygienisch verstandenen „Rückkehr zum Normalbetrieb“ mit einer zweiwöchigen „Testphase“ vor den Sommerferien. Schulforscher Trautwein schwadroniert von einem „Zwischensprint“, den es einzulegen gelte, um das bisher Versäumte rasch aufzuholen, so als sei das Lernen nur eine sportliche Trainingseinheit, bei der man mal schneller und mal langsamer macht – selbst unter Corona-Bedingungen. Die Elternvertretungen haben schon Recht, wenn sie von der Politik „ein Konzept“ verlangen, wie es nach den Ferien unter der Pandemie weitergehen soll.

Die richtigen Fragen stellen, nach richtigen Prinzipien handeln

Die Frage lautet nicht: Wie wursteln wir uns möglichst weiter wie bisher irgendwie durch die Pandemie?

Sie lautet: Welche Möglichkeiten, Chancen und Einschränkungen eröffnet die gegenwärtige Situation für die Bildung der Kinder und Jugendlichen?

Welche Bildungsziele sind sinnvoll und möglich, welche Arbeits- und Sozialformen des Lernens sind angemessen, welcher Zeit- und Nachholbedarf ist nötig?

Die Pandemie ist nicht vorüber, ihre Dauer nicht abzusehen. Covid 19 ist in seiner Gefährlichkeit und seinen Langzeitfolgen nicht umfassend erforscht. Impfstoffe und Therapeutika sind (noch?) nicht vorhanden. Die Schulen sind räumlich, das Lehrerpersonal ist zahlenmäßig begrenzt. Rückkehr zum „Normalbetrieb“ wäre für Kinder, Lehrer und Gesellschaft russisches Roulette.

Abstandsgebot und Maskenpflicht aber sind für schulisches Lernen keine Lösung. Es bleibt nur nachhaltiges Testen und Unterricht in kleinen stabilen Lerngruppen, welche in einem rollierenden System von anderen Gruppen getrennt bleiben, um mögliche Infektionsherde zu begrenzen und Infektionsketten rasch zu unterbrechen. Auch Unterricht im Freien, unter Pavillons auf dem Schulhof, bei geöffneten Fenstern, um die Gefahr zu verringern. Sind die Lerngruppen nach Wohngebieten und Freundschaften zusammengestellt, umso besser für außerschulisches Lernen und die Eingrenzung des Infektionsrisikos.

Viele Entwicklungen und Versäumnisse der letzten Jahrzehnte erweisen sich in der Pandemie als fatale Fehler:

Die Gigantomanie großer Schulen auf Kosten kleinerer Schulen vorzugsweise im ländlichen Bereich. Nun breitet sich die Infektion von einem Herd auf einen riesigen Einzugsbereich und – auch via Schulbus – bis in die Dörfer aus. Die „Ökonomie“ großer Klassen, vulgo: knausriger Bildungsausgaben, führt nun zum Mangel an Lehrpersonal und Räumen. Die Tendenz zum Ganztagesschulsystem und zur Ganztagesbetreuung ist nicht mehr durchzuhalten, hat aber die Selbstständigkeit der Jugendlichen in der Freizeit untergraben. Die Schulzeitverkürzung (G8) führt unter Pandemiebedingungen zu substanziellem Bildungsverlust und unvermeidlicher Niveauabsenkung. Das home-schooling der letzten Monate hat allen Beteiligten viel abverlangt, es ist aber in dieser Form gescheitert.

Konzentration, Vergrößerung, Zentralisierung, Ökonomisierung, gesteigerte Mobilität und Vernetzung machen das Bildungswesen gegenüber Belastungen und Katastrophen ebenso anfälliger, strukturschwächer und weniger „resilient“, wie wir dies in der exzessiv globalisierten Weltwirtschaft unter Pandemiebedingungen vor Augen geführt bekommen. Rückkehr zu überschaubarer Größe, Dezentralisierung und Entflechtung müssen hier wie dort auf die Tagesordnung gesetzt werden. Das didaktische Prinzip „vom Nahen zum Fernen“ stellt die Nähe an die erste Stelle, ohne welche die Ferne nicht erreicht werden kann. Schulisch heißt dies „Wohnort- und Lebensnähe“, ökonomisch „Binnenmarkt“, nicht „Schulzentrum“ und „Exportoffensive“. Die sind auch wichtig, aber sekundär und speziell.

Lernen in der „neuen Normalität“

Alles in Allem: Nur ein Drittel oder die Hälfte normalen Schulunterrichts lassen sich mit den gegenwärtigen Kapazitäten und unter den gegenwärtigen Bedingungen realisieren und organisieren, d.h. bestenfalls ein Halbtagssystem mit reduzierter Stundenzahl (täglich drei, manchmal vier Unterrichtsstunden; 15 bis 18 Wochenstunden), wobei eine Konzentration auf die sogenannten „Kernfächer“ der Allgemeinbildung (d.h. der Bildung) weiteren Schaden zufügen würde und abgelehnt werden muss. Ein aus dem reduzierten Unterricht entwickeltes Mehr an klassischen Hausaufgaben macht keinen Sinn, weil Hausaufgaben durch Unterricht vor- und nachbereitet werden müssen, sollen sie nicht zu unlösbaren Schwierigkeiten („Mama, das versteh‘ ich nicht!“) und demotivierender Frustation („Der Lehrer hat sie nicht mal angeschaut!“) führen.

Was aber möglich ist, sind andere Hausaufgaben sowie Projekte mit bisher vernachlässigtem Bildungspotenzial. Traditionell gehören dazu umfangreiche Ganzschrift-Lektüren – ruhig auch aus einem Klassiker-Kanon, ruhig auch Sachbücher – mit Kommentierung, wodurch das Lesen und Schreiben gefördert wird. Ähnlich und doch sehr ungewohnt wäre eine kontinuierliche Zeitungslektüre – Zeitungen stellen gern Probeabonnements zur Verfügung – mit einer wöchentlichen „Presserunde“ in der schulischen Lerngruppe, abwechselnd mit Vergleichsgruppen zu TV und Internet. Sportliche Übungen, künstlerische Gestaltungs und musikalische Übungsaufgaben, die Erkundung von Museen und Zoos sind außerhalb des schulischen Unterrichts viel besser zu bewältigen als die „Konzentration auf die wesentlichen Fächer Mathematik, Fremdsprache, Deutsch“. Das „Wesentliche“ der Bildung ist für den Utilitaristen, Technokraten und Betriebswirt oft gerade das „Überflüssige“. Es ist auch besser, wenn die Kinder außerhalb der Schule sich einmal Kenntnisse der heimischen Flora und Fauna aneignen, zehn Baumarten oder Wiesenkräuter unterscheiden lernen, fünf Vogelstimmen aufnehmen und identifizieren, Wetter, Klima beobachten und messen, sich mit Wolken künstlerisch und wissenschaftlich befassen usw. usf. All das ist – vor allem in Verbindung mit frischer Luft – viel sinnvoller als ihren täglichen Smartphone- und Tabletkonsum weiter anzustacheln.

Und der „Bildungsplan“? Da braucht man eben ein Jahr länger!

Wer das nicht wahrhaben will, will weniger Bildung.