Veröffentlicht am 09.12.11

Schreibverhinderungsstrategie für ABC-Schützen

Es ist schon ein seltsam‘ Ding mit der Bildung in Deutschland, der „Bildungsrepublik“.  Auf der einen Seite kann man die jungen Menschen gar nicht früh genug auf „Leistung, Wissen und Exzellenz“ trimmen: Wettbewerb schon in der Kita,  Fremdsprachen noch vor dem Beherrschen der Muttersprache,  Förderprogramme bis in den Abend und regelmäßige Leistungstests. Auf der anderen Seite verweigert man Grundschulkindern das Lernen elementarer Kulturtechniken. Etwas an sich Selbstverständliches wie das flüssige Schreiben mit der Hand, die Schreibschrift, soll ersetzt werden. Wie in Deutschland üblich gibt es dafür einen eingetragenen Verein. Wenn es nach den Vorstellungen des „Grundschulverband e.V.“ geht, lernen die Kinder nur noch die Grundschrift aus einzelnen Lettern (Druckbuchstaben), nicht aber mehr die Schreibschrift. Man möge doch den Kindern das Lernen dieser „Schnörkel“ ersparen. Vereinfachung, Zweckmäßigkeit und Effizienz lauten die Parolen.
Ein festes Ziel vor Augen – die selbst entwickelte Grundschrift in Grundschulen zu etablieren – will sich beim Grundschulverband niemand von Fakten irritieren lassen. Schnörkel braucht keiner! Dabei sind Schreibschriften keine „Schmuck-“, sondern Gebrauchsschriften für den Alltag. Verschnörkelt ist nichts, sondern sinnvoll für fließende Bewegungen und flüssige Übergänge entwickelt. Schreibschriften erleichtern der – geübten – Hand ein schnelles, fließendes und auch bei längeren Texten müheloses Schreiben – im Gegensatz zu den vereinzelten Buchstaben der Druckbuchstabenschrift, bei denen man für jeden Buchstaben zum Teil mehrmals neu ansetzt. Neben dem feinmotorischen Trainieren der Handfertigkeiten leistet das Schrift-Schreiben aber noch mehr: Die Handschrift wird Teil der Persönlichkeit, der Fluss des Schreibens korrespondiert mit dem Fließen der Gedanken. Handschriften werden durch Üben so individuell wie der Duktus beim Zeichnen. „Schrift und insbesondere Handschrift sind Teil der Identität.“ (Harald Haarmann, Sprachwissenschaftler und Autor des Buches „Geschichte der Schrift“)
In der Tat muss man das lernen. In der Tat kann das (für Pädagogen, Eltern) mühsam sein. Warum also, so die  Frage, etwas lernen, was Mühe macht und später ohnehin nicht mehr gebraucht wird – bei all den Tastaturen und Touchscreens? Warum nicht nur die Buchstabenformen lernen, die Computer  anzeigen? Kommt nicht auch das ganze Gedruckte (Zeitungen, Bücher …) mit Einzel-, also Druck(!)buchstaben daher? Schneidet die alten Zöpfe ab.

Effizienz-Effektivitäts-Optimateure

Erst durften Kinder nicht mehr korrekt schreiben lernen. Das nähme die Lust und wäre gar zu anstrengend. Daher basteln sie neuerdings fröhliche Wortgebilde, mit viel Spaß, aber orthographisch und grammatikalisch falsch. Zitat:

„Die Kinder kriegen eine »Anlauttabelle«. Man erklärt ihnen, welcher Laut welchem Buchstaben entspricht. Dann sollen sie loslegen. Sie hören einen Satz, gucken in ihrer Tabelle nach und schreiben: »Die Schulä fenkt an.« Schon nach ein paar Wochen können sie halbe Romane schreiben, besser gesagt, halbä Roh Manne. Der Lehrer darf sie nicht korrigieren. Das würde den Kindern, heißt es, seelischen Schaden zufügen und sie demotivieren.“
 

Lesen Sie die Glosse von Martenstein, es endet fröhlich, wenngleich dramatisch, aber immerhin, Spaß hat es gemacht…
Lernen ist mitunter mühsam. Beispiel: Schuhe binden. Es dauert eine Weile, bis die Auge-Hand-Koordination gelingt und die kleinen Finger den Senkel durch die Schlaufe ziehen. Es dauert, bis beide Fäden koordiniert werden und es eine Schleife wird. Es dauert, bis die Schleife hält. Es gibt Tränen und Wutausbrüche. Einfacher wäre ein Klettverschluss. Schnell und effizient. Nur ist diese Effizienz und „Zielgerichtetheit“ (um Schuhe zu verschließen)  in etwa so  sinnvoll wie ein Kochkurs mit Kindern, bei dem man lediglich Tiefkühlkost in die Mikrowelle steckt. Doch ja, man kommt schnell zum Ergebnis, die Kinder bekommen schnell was auf den Teller, es schmeckt immer (gleich) und man braucht weniger Pflaster. Das sind doch alles gute Argumente … nur: Lernen Kinder so das Kochen?
Nur, wenn man sich bemüht, Kindern und Jugendlichen das beizubringen, was nicht auf Anhieb gelingt, erweitern wir ihren Handlungsspielraum und ihre Entscheidungsmöglichkeiten. Wer Schuhe binden kann, trägt Schuhwerk mit Senkeln oder Klettverschluss, wie es ihm oder ihr gerade gefällt. Wer es nicht kann, hat keine Wahl. (Es ist auffällig, wie wenig die haptischen, sensorischen und feinmotorischen Fähigkeiten trainiert werden. Es ist auffällig, wie eingeschränkt die Wahrnehmungsfähigkeiten und Handlungsoptionen dadurch werden.)
Wie wäre es daher, wenn man Kinder nicht vor jeder vermeintlichen „Anstrengung“ schützen zu müssen glaubt und ihnen stattdessen zutraut, dass sie nicht nur lernfähig, sondern auch lernwillig  sind, ausdauernd und ehrgeizig? Wie wäre es, sie – statt  „Mühsames“ aus dem Weg zu räumen – im eigenen Können zu unterstützen, mit Muse und Geduld? Und Lob? Wie wäre es, wenn man statt der frühzeitigen Konditionierung auf technische Druckbuchstaben und das „Tippen am Bildschirm“ (Touchscreens) die  Alternative des Schreibens mit der Hand forciert – so, wie man es gleichzeitig für viele andere manuellen Tätigkeiten einfordern muss wie dem Musizieren, Werken, Malen: mit der Hand, nicht der Maus.  Denn die spielende Aneignung von  Fingerfertigkeit, die Kinder beim Umgang mit Tablet-PCS und Handhelds zeigen, führt bei manuellen Handlungen ja wohl nicht gleich zur Überforderung, nur weil am Füller oder Bleistift kein Stecker dran ist.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Pädagogik ist vielmehr, in einer zunehmend von technischen Ein- und Ausgabegeräten dominierten Welt den Schülerinnen und Schülern im Wortsinn Alternativen „in die Hand“ zu geben und mit ihnen zu üben, dass man nicht mehr braucht, um eine ganze Welt aus Figuren, Zeichen, Worten zu entwickeln als:  Stift und Papier. Zur Ästhetik des Schreibens gehört, wie beim Tanzen und Musizieren, wie beim Singen und Denken, wie immer, wenn der Mensch in seinem Tun und Denken lebendig und beweglich sein will, das Fließende. Die Schreibschrift erlaubt das Tanzen im kleinen Radius von Auge und Hand statt Buchstabe um Buchstabe zu exerzieren.

Nachsatz

Horst Bartnitzky ist Volksschullehrer, seit 1983 im Vorstand des Grundschulverbandes, von 2000 bis 2010 dessen Vorsitzender. Er entwickelte mit einer Projektgruppe des Verbandes die Grundschrift, die er als Initiator und Autor von Lehrmaterial bundesweit propagiert.

Quellen:

H. Bartnitzky u. a. (Hrsg.): Grundschrift – Damit Kinder besser schreiben lernen. Beiträge zur Reform der Grundschule, Bd. 132. Grundschulverband: Frankfurt, 2011.

Susanne Gaschke: Jetzt ist mal gut mit der Reformiererei. Weg mit der Schreibschrift? Unsere Schulen brauchen Ruhe. Und gute Lehrer , in: DIE ZEIT Nr. 27, 30. Juni 2011, S. 14

Hans-Joachim Grobe : Von jetzt an nur noch wie gedruckt . Wollen wir nach der deutschen Schreibschrift auch die lateinische verlernen? in: FAZ vom 09. August 2011, S. 30

Lothar Müller: Lasst die Schnörkel leben! Ein großes Missverständnis: Die Schreibschrift überfordert angeblich die Kinder und soll abgeschafft werden, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. Dezember 2011, S. 11

Zum Pro und Contra siehe exemplarisch: Hans Brügelmann (Pro); Ute Andresen (Contra):
http://www.spiegel.de/schulspiegel/0,1518,771875,00.html

Die Grundschrift aus Sicht des Grundschulverbandes
http://www.grundschulverband.de/projekte/grundschrift/