Veröffentlicht am 07.03.20

Schlechte pädagogische Konzepte verhindern gute Digitalsierung!

Von Dr. Norbert Vetter

Am 24.10.18 erhielt ich via Schulleitung eine E-Mail von der Firma baumgartner.training GmbH Institut für Unterrichtsentwicklung und Evaluation. Diesen hier zusammengefassten Werbetext für eine LehrerInnen-Fortbildung kommentiere ich nachfolgend mit einigen Anmerkungen.

In dem Werbe-Anschreiben wird einleitend auf den Umgang mit digitalen Medien und Internet hingewiesen. „Der verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Medien sowie das Einordnen und Bewerten der verfügbaren Informationen im Internet ist zu einer Schlüsselkompetenz wie Lesen, Schreiben und Rechnen geworden.“ Gleich hierzu stellt sich die Frage, was sich an Lesen, Schreiben und Rechnen verändert hat, dass man diese Kulturtechniken hier lediglich als „Schlüsselkompetenzen“ bezeichnet? Während letztere die Türen zum beruflichen Erfolg öffnen sollen, ist im Begriff Kulturtechnik mit dem Bildungsziel der Teilnahme an und dem Schaffen von Kultur viel mehr angelegt. Weiter im Text kommen die Unterrichtsentwickler über eine pseudodidaktische Gedankenführung auf die angeblich „aktuellen“ schulischen Anforderungen und gleich darauf taucht auch die „digitale Zukunft“ aus dem semantischen Dunst auf: Insbesondere muss das Lernen über Medien und der damit verbundene starke Anteil an inhaltlicher Reflexion in der didaktischen Konsequenz für den Unterricht durchdacht und umgesetzt werden, um den aktuellen schulischen Anforderungen zu entsprechen. Auf dem Weg in die digitale Zukunft gilt für den Schulbereich der eindeutige Grundsatz: Die Technik muss der Pädagogik bzw. Didaktik folgen.“ Die „digitale Zukunft“ funktioniert wie eine Metapher, deren heuristischer Nutzen dringend reflektiert werden sollte. Welche Wirklichkeit wird darin zum Mythos?

Wie es um den „eindeutigen Grundsatz“ der Coaches bezüglich der Priorität der Pädagogik (Technik folgt Pädagogik) bestellt ist, wird gleich deutlich, denn hier heißt es in der Ankündigung der Fortbildung: „Nur mit einem guten pädagogischen Konzept kann die digitale Technik ihr Potenzial im Unterricht entfalten.“ Anders gesagt: Mit einem „schlechten“ pädagogischen Konzept kann die digitale Technik ihr Potenzial nicht entfalten, also muss ein anderes Konzept her und die Pädagogik folgt somit doch der Technik, nicht umgekehrt. Wenn ein „gutes“ pädagogisches Konzept eines ist, das es Tablets und Laptops ermöglicht, ihr Potenzial zu entwickeln, wird hier wohl eine auf separierenden Individualunterricht ausgerichtete Pädagogik gemeint sein.

Durch solche „guten“ Konzepte machen wir Lehrer uns selbst überflüssig und geben gleichzeitig die Gemeinschaft als Lernort preis. Das Perfide daran ist: Wir bezahlen auch noch dafür! Denn alles, was das Land in die Digitalisierung und die entsprechenden Zweige der Wirtschaft investiert, das geht uns in der Schule an personellen Mitteln verloren. Wir haben die guten Konzepte seit langem und wir haben die pädagogische Erfahrung und müssen uns nichts von einer langjährigen Trainerin und Businessfrau, die „Erfahrung mit Schulen“ hat, erzählen lassen. Leider wird der Bildungssektor für solche anmaßenden Invasoren immer mehr geöffnet. Cui bono?

Wenn wir die Schulen auf billige Digitalberieselung heruntergewirtschaftet haben, werden die Bereitsteller der digitalen Technik und die Softwarehersteller am in Deutschland bislang öffentlichen und noch sozialen Bildungssystem Profit gemacht haben. Auch solche Dienstleister wie die Firma Baumgartner. Dann wird es eine billige Bildung geben – für die Armen. Und es werden sich nur die Reichen die teure, private Schule leisten können, jene Schulen, die auf den zwischenmenschlichen Kontakt setzen und vordigitale pädagogische Konzepte entfalten – vielleicht ohne Computer. Digitale Aufgabenformate wird man einstufen als das, was sie in Wirklichkeit sind: algorithmisch erzeugte Lernmechanik. In den USA hat man das längst erkannt, darum ist die hier geschilderte Vision auch für uns als Importeure amerikanischen Sinns und Unsinns realistisch.

Der verbale Hokuspokus um alles Digitale gleicht inzwischen einer totalitären Vereinnahmung: Die Schule ist kein Teil der Wirtschaft. Vom humanistischen Bildungsbegriff lässt sich nicht monetär profitieren, weil die Würde nicht käuflich ist (s. unten: Humanressource Schule). Doch weiter im Text: „Gleichzeitig bieten aktuelle digitale Technologien zahlreiche neue pädagogische Chancen und Ansatzmöglichkeiten, um Schulunterricht wirksamer und/oder individualisierter zu gestalten, zu bereichern, individualisierte Lernprozesse zu fördern oder auch junge Menschen mit Behinderung im Lernen zu unterstützen.“ Was wäre denn veraltete digitale Technologie? Diese Frage sollte man sich angesichts des Computermülls in Schulen dringend stellen, denn zweifellos wird der anfallende Schrott in der „digitalen Zukunft“ nicht weniger werden. Bei der Bewertung pädagogischer Chancen sollte man eines nicht vergessen: Wir Lehrer und Lehrerinnen leben jeden Tag für und mit geglückten Momenten der Begegnung mit Schülern. Das ist unser gutes Handwerk und unser Glück, allem „Schulentwicklungs-Stress“ zum Trotz.

Man sieht immer deutlicher, was Wirksamkeit im Kompetenzkonzept sein soll: auf keinen Fall ist Bildung das Wirkziel. Denn Kompetenz für irgendwas und final für irgendwen, ist keine Bildung. Die beworbene Fortbildung soll uns darüber hinaus belehren, wie digitale Technik zur Unterstützung von Menschen mit Behinderung genutzt werden kann. Inklusion darf im Vokabular der Werbeanzeige nicht fehlen. Über die genannten Ziele hinaus möchte das Praxisseminar digitale Einsatzmöglichkeiten vermitteln, damit „heterogene“ Lerngruppen zu einem gemeinsamen Thema „individualisiert“ arbeiten können. Hier drängt sich die Frage auf, was mit einer heterogenen Lerngruppe geschieht, wenn wir „individualisieren“ und die Heterogenität damit verstärken. Überhaupt sollten wir einmal darüber nachdenken, ob die Bedeutung des Begriffs Individualisierung bei dem ankommt, was wir früher Vereinzelung oder Isolation nannten. Wo bleiben die verbindenden Momente der Gruppe, wo das Lernen von und mit anderen? Wie hoch bleibt die Wahrscheinlichkeit der Chance, intersubjektive pädagogische Lernsituationen zu kultivieren? Und: Wohinein soll man inkludieren, wenn die Gemeinschaft heterogen individualisiert ist, wenn z. B. alle am Computer sitzen? Ob wir die „Entwicklung“ in diese Richtung wollen, sollten wir gründlich reflektieren, bevor wir uns auf solche Fortbildungen einlassen:

„Das Seminar Kompetenzorientierte Unterrichtsentwicklung – Digitale Aufgabenformate zur individuellen Förderung (…) setzt genau an diesen Punkten an und ist für Lehrkräfte aller Schulformen geeignet.“

Darum sei hier die Frage erlaubt, wer die Eignung dieser Seminare für Schulen prüft? Pädagogen? Erziehungswissenschaftler? Sozialpädagogen? Soziologen? Psychologen? Es sind wahrscheinlich Ökonomen, Programmentwickler, Hersteller von digitalen Endgeräten ohne pädagogische Befugnis – und schlecht beratene Politiker wie auch pflichthörige Beamte, die deren Ratschläge befolgen. Die Begriffe Kompetenz und Befugnis fallen im Sprachgebrauch der Bildungsreform gerne in eins, auch sie sollten zur Vermeidung des Unfugs redlich unterschieden werden, da von Kompetenz keine Befugnis abgeleitet werden kann. Solche sich unterschwellig vollziehenden Umdeutungen machen auch vor dem Menschenbild nicht halt. Wenn Schule als ökonomische Humanressource begriffen wird, ist es notwendig, neu über die Würde nachzudenken. „Würde“ ist ein Abstraktum, das in seiner Bedeutung schwer zu definieren ist. Es steht für die im Menschen angelegte Freiheit der Entwicklung, für das Recht auf seine Unversehrtheit, das Recht auf ein Leben und eine angemessene Qualität der Lebensbedingungen, in denen er sich befindet. Es steht für die Akzeptanz des Individuums als einmaliges Lebewesen, das schöpferisch ist und daher ein Recht auf die Veränderung seiner Lebensverhältnisse hat. Es steht für Respekt, für Toleranz, für das Recht auf Gleichbehandlung.

Immanuel Kant hat in den Grundlagen der Metaphysik der Sitten zum Begriff der Würde (R. Eisler, 2002) einen wichtigen Aspekt beobachtet, der angesichts des veränderten Menschenbildes denkwürdig ist. Er sagt: „Im Reich der Zwecke (…) hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; Was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“. Die Würde versteht er als einen inneren Wert, für den es keinen Preis, kein Äquivalent zur Verrechnung gibt. Gibt man die Würde preis, wenn man dem, was Würde hat, dennoch einen Preis gibt? Bezieht man diese Überlegung auf den Menschen, muss man hier mit ja antworten. Der Mensch verliert die Würde für den, der mit ihm rechnet, wenn er in seinem Wert kalkuliert wird und als Ressource mit ökonomischem Gegenwert gehandelt wird. Wird sein Äquivalent auf Euro und Dollar reduziert, erhält er einen Preis. Durch den Preis gerät ein wesentlicher Aspekt aus der Sicht: Es tritt „im Reich der Zwecke“ eine andere Rationalität in den Diskurs, nach deren Logik die Würde als nicht Rechenbares beiläufig entwertet wird. Das ökonomistische Menschenbild hält dem ethischen Imperativ des deutschen Grundgesetzes Art. 1 nicht stand. Darum hat die Reduktion des Menschen auf human resources und human capital in Schulen nichts zu suchen, ebenso wenig das Geschäft mit der Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Es ist erstaunlich, mit welcher Fahrlässigkeit pädagogisch inkompetenten Coaches die Befugnis erteilt wird, in Schulen das Lehrpersonal zu unterrichten. Das geht gegen die Würde einer ganzen Profession.