Veröffentlicht am 18.01.21

Negatives Qualitätsmanagement

Das Momentum der Verkündung und die darauffolgenden Umsetzungsstrategien einer weiteren, neuen Qualitätsmanagementmaßnahme an einer Schule werden in folgenden Gedanken kritisch betrachtet. Dabei wird versucht, das oft rein positiv ausgerichtete Qualitätsmanagement durch ein negatives zu erweitern.

In einer Lehrerkonferenz wird von der Schulleitung eine neue Maßnahme zur Schulentwicklung bzw. zur Qualitätsverbesserung verkündet. Diese Maßnahme wurde von der Bildungsdirektion an die Schulleitung übermittelt und ist ab dem Zeitpunkt der Verkündung zu beachten, umzusetzen, und es gilt, sich danach zu richten, den Unterricht unter Berücksichtigung dieser Neuigkeit nachweislich, ehestmöglich zu verändern. Die Schulleitung muss die Erwartungshaltung an die Umsetzung dieser Maßnahme nicht explizit erklären, sie ist im Raum spürbar. Nur wenige Sekunden danach fragen manche Lehrer, ob sie zu dieser neuen Veränderung Unterlagen haben könnten, um sie im Lehrerteam beim nächsten Entwicklungstreffen bereits zu besprechen. Manche melden sich zu Wort und bieten eine Arbeitsgruppe an, bei der sie bereit wären, diese zu leiten. In dieser Arbeitsgruppe könnte man doch die neue Maßnahme mit den individuellen Schwerpunkten der eigenen Schule abstimmen. Andere Lehrer äußern bereits zu diesem Zeitpunkt erste Ideen, wie diese Neuigkeit effizient in die Schulentwicklung der Schule implementiert werden könnte. Die Schulleitung bestärkt die Wortmeldungen des Kollegiums, indem sie diese einerseits, positiv gestimmt, wiederholt und sich andererseits selbstverständlich bereit erklärt, für geeignete Szenarien zu sorgen, in denen an den neuen Maßnahmen gearbeitet werden kann.  Erste kleine Gruppen bilden sich im Kollegium während der Konferenz, Terminabsprachen für Entwicklungstreffen werden abgestimmt und digitale Vernetzungsplattformen für die Sammlung von Arbeitsergebnissen werden angedacht. Die Schulleitung hat nur noch einen weiteren Punkt zu verkünden, die zeitlichen Meilensteine, welche ebenso wie die Maßnahme, bereits festgelegt wurden. Zeitliche Meilensteine, bei denen vorgegebene Arbeitsergebnisse dokumentiert an die Schulleitung abzugeben sind. Hektisch werden diese zeitlichen Vorgaben notiert, es gilt ja keinen Fehler zu machen, effizient soll die eigene Schule weiterentwickelt werden. Noch bevor eine kritische Frage zu dieser Maßnahme auftaucht, wird die Konferenz beendet. Speed kills.

In dieser Form des Implementierens eines nächsten Entwicklungsschrittes an einer Schule, von der Schulleitung aus, bleiben Fragen offen. Wer hat diesen nächsten Entwicklungsschritt unter welchen pädagogisch-wissenschaftlichen Voraussetzungen gestaltet? Wann genau wurden die bisherigen Qualitäts-sicherungsschritte evaluiert, als nicht ausreichend befunden und legitimieren somit schon wieder den nächsten Schritt? Hat die Schule das Defizit, welches als solches die neue Qualitätsmanagementmaßnahme begründet, als solches wahrgenommen oder ist zeitgleich mit der Verkündung der Maßnahme erstmals das Defizit in die Wahrnehmung der Lehrer aufgenommen worden? Bleibt doch noch Zeit, um die verkündete Maßnahme erstmals im Kollegium grundsätzlich, also noch ohne Umsetzungsstrategien zu koordinieren, zu diskutieren? Ist diese neue Qualitätsmanagementmaßnahme nun endlich die letzte in einer langen Reihe, kann die Schule dann wieder aufatmen und sich dem Kerngeschäft Didaktik, Bildung und Erziehung widmen? Oder bleibt die Schule doch eher in einer Endlosschleife von evidenzbasierten Umstrukturierungen, ist das folglich als fester Bestandteil des pädagogischen Alltags zu akzeptieren?

Kritisches Hinterfragen, Raum und Zeit für Diskussionen im Kollegium scheinen nicht vorgesehen, werden vielleicht sogar als hinderlich im Umsetzungsversuch betrachtet und sind somit möglichst zu vermeiden. Andernfalls könnte die Schule die zeitlichen Meilensteine nie erreichen. Mündigkeit als Thema im Unterricht ist akzeptabel, bei Qualitätsmanagementmaßnahmen bitte nicht. Es wäre möglicherweise für die Schulleitung leichter eine solche Verkündung nicht als Denkansatz für die Schule zu tarnen, sondern sie in ihrer Befehlsstruktur auch offen darzulegen. Befehle müssen sich eben nicht unbedingt rechtfertigen, ihre Herkunft offenlegen, sich auf eine Dialektik einlassen. Sie sind Befehle, also als solche zu befolgen, umzusetzen, effizient und zeitnah ist ihr Transfer nachzuweisen. Die nächste Evaluierung ist unaufhaltbar und die wird zeigen, ob der Befehl entsprechend gut ausgeführt wurde. Für die Lehrer wäre das leichter, da es klar als Befehl kommuniziert wurde und in Folge kritisches Hinterfragen per se keinen Sinn macht. Man würde, um im Begriffsfeld zu bleiben mit „offenem Visier“ seine Absichten verkünden, statt den Schein eines Diskurses zu erzeugen, dessen oft langwierigen und komplexen Verlauf im pädagogischen Umfeld man doch gar nicht wolle.

Diesem positiv ausgerichteten Qualitätsmanagement, welches scheinbar die Bedingungen guten Unterrichts eindeutig festlegen kann, seine Positivität somit begründet und nur noch interessiert ist, die entsprechenden evidenzbasierten Nachjustierungen in Endlosschleifen an den Schulen zu implementieren, fehlt ein negatives Qualitätsmanagement. Negatives Qualitätsmanagement klingt so negativ, eigentlich nicht brauchbar im pädagogischen Diskurs, könnte man meinen. An dieser Stelle seien nur zwei unterschiedliche Fälle aufgezeigt, welche das Denkpotential von systematischen Arbeiten zu Schule und Negativität im pädagogischen Umfeld aufweisen.

In der Schule des Fortschritts  (Schirlbauer, 2018) zeigt Alfred Schirlbauer zuerst scheinbar positiv gerichtete Grundzüge einer Schule des Fortschritts auf. Kaum richtet sich der Leser gemütlich auf diese konstruierte, positive Schule des Fortschritts ein, folgen Antithesen, in denen Schirlbauer die Irrtümer aus pädagogischer Sicht aufzeigt. Nun wird also die negative Seite des Konstruktes Schule des Fortschritts offengelegt. Diese negative Seite ermöglicht es dem Leser das zunächst einseitig, positiv gerichtete Konstrukt nun eben von einer anderen Seite kritisch zu betrachten, Argumente abzuwägen und danach sogar zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Schirlbauer wendet sich abschließend keiner Synthese von positiver und negativer Skizze der Schule des Fortschritts zu, sondern plädiert für den unendlichen Widerstreit.

Lutz Koch wiederum nimmt die Systematik der Negativität in der Pädagogik in den Fokus seiner Arbeit und zeigt in seiner pädagogischen Apologie des Negativen (Koch, 2005), wie gehaltvoll die Auseinandersetzung mit Pädagogik und Negativität sein kann und erarbeitet dabei fünf bedeutende Negationsmomente, auf die hier nicht eingegangen werden kann.

In beiden Arbeiten wird nicht auf den Zusammenhang von Negativität und Qualitätsmanagement explizit eingegangen, dieser wird im Folgenden skizzenhaft dargelegt. Im angeführten Szenario der Verkündung einer neuen, positiv gerichteten Qualitätsmanagementmaßnahme gilt es negative Qualitätsmanagementmaßnahmen zu entwickeln, um nicht in eine unreflektierte Umsetzungsstrategie zu verfallen.

 

  1. Negative Skizze und Ablehnung

Wird eine Innovation für eine Schule verkündet, so kann das Kollegium der Schule zunächst eine negative Skizze entwickeln, d.h. einen Gegenentwurf zur Innovation skizzieren. Nun gibt es zur Innovation eine oder mehrere Alternativen und Argumente können für oder gegen die Innovation, für oder gegen den Gegenentwurf gefunden, diskutiert und gegenübergestellt werden. Das Kollegium kann im nächsten Schritt, ohne Umsetzungsdruck, ohne zeitliche Meilensteine, ohne spürbare Manipulationen, ohne Wettbewerbsnachteile, ohne Ressourcenkürzungen etc. befürchten zu müssen, zu einem Urteil gelangen. Scheint der Gegenentwurf die vorgeschlagene Innovation nicht rechtzufertigen, scheint die innovative Maßnahme nicht zu überzeugen, sind gar Irrtümer im vorgeschlagenen pädagogischen Denken und Handeln der Innovation aufzufinden, so kann das Kollegium eben diese innovative Maßnahme ablehnen. Somit stellt sich zukünftig jede Maßnahme des Qualitätsmanagements dieser „pädagogischen Prüfung“. Der Automatismus der direkten Übernahme von positiven Maßnahmen und sofortigen Umsetzungsstrategien wäre unterbrochen.

 

  1. Negative Skizze und Übernahme

Durch die Entwicklung eines Gegenentwurfs zur Innovation kann ein Diskurs am Standort initiiert werden. Eine innere Schulreform kann in Gang gesetzt werden. In der Auseinandersetzung um die Innovation kann ein Defizit in der Schulentwicklung sichtbar werden, das als solches allerdings vom Kollegium erkannt wird und nicht wie im rein positiven Qualitätsmanagement bereits im Vorfeld unterstellt wird. Die negative Skizze dient in diesem Fall, um über Schulentwicklungsmaßnahmen in Zusammenhang mit der verkündeten Maßnahme nachzudenken. Die Innovation kann übernommen werden, wenn die Argumentationslinie dafürspricht. Eine Übernahme der neuen Maßnahme wird nun nicht mehr als unreflektierte Umsetzung eines „Befehls“ wahrgenommen, sondern kann vom Kollegium im pädagogischen Denken und Handeln getragen werden. Durch genau diese innere Haltung der übernommenen Maßnahme gegenüber, hat diese auch die Möglichkeit ernsthaft im Unterricht ausprobiert zu werden und nicht als Scheintätigkeit, dem „Befehl“ folgend, sich nach kurzer Zeit in Nichts aufzulösen.

 

  1. Negative Skizze und Synthese

Negative Skizze und positive Skizze scheinen nicht mehr eindeutig überzeugen zu können. Es gilt neue Ansätze zu finden. In einer Synthese, die zeitlich entweder vor jeder Umsetzungsstrategie oder nach Erprobungsversuchen im Unterricht verortet werden kann, wird nach der neuen Form aus negativer und positiver Skizze gesucht. An dieser Stelle bieten sich ernsthafte, evidenzbasierte, begleitende Forschungs-vorhaben an, d.h. unterrichtende Lehrer und Forscher erproben, dokumentieren Unterrichtsgeschehen unter Berücksichtigung der Qualitätsmanagementmaßnahme und reflektieren, beispielsweise gemeinsam, Forschungsergebnisse. Die Synthese ist in dieser Form des Qualitätsmanagements nicht als starres Endprodukt zu betrachten, sondern folgt begleitender Forschung und Diskussionen im Lehrerkollegium. An dieser Stelle zeigt sich das Potential einer solchen Form gegenüber der „Befehlsform“. Im rein positiv gerichteten Qualitätsmanagement sind Begleitungen des Unterrichts meist nur auf die Einhaltung der zeitlichen Meilensteine und die Implementierung der Maßnahme fokussiert.

 

Diese kurze Skizze eines negativen Qualitätsmanagements zeigt die Möglichkeit auf, mit einem Gegenentwurf, der negativen Skizze, in einen pädagogischen Diskurs zu gelangen. Das Kollegium einer Schule hat nun wieder Freiheiten im pädagogischen Denken und Handeln. Dem liegt durchaus kein kategorisches Ablehnen jeder Innovation zu Grunde, wie gezeigt wurde. Manipulation der Lehrer ist nicht mehr notwendig. Negatives Qualitätsmanagement kann als fester Bestandteil des positiv gerichteten betrachtet werden. Erst durch die Beachtung beider Anteile im Prozess der Schulentwicklung kann eine Innovation als sinnvoll anerkannt und längerfristig implementiert werden. Wird der negative Anteil gezielt ausgelassen, so steht jede auch noch so gut gemeinte Maßnahme unter Verdacht der „pädagogischen Prüfung“ nicht standhalten zu können und sich somit hinter der „Befehlsform“ verstecken zu müssen.

 

So negativ klingt nun negatives Qualitätsmanagement im pädagogischen Umfeld nicht mehr.

 

Literatur:

Koch, L.: Eine pädagogische Apologie des Negativen. In: Erziehung-Bildung-Negativität. Hg: Benner, D. Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft, 49. Weinheim u.a.: Beltz. S.88-104.

Schirlbauer, A.: Schule des Fortschritts-Ein Essay. In: Zeitgemäße Pädagogik. Verlust und Wiedergewinnung der einheimischen Begriffe. Hg: Schirlbauer, A., Schopf, H., Varelija, G. Wien. Löcker Verlag. S.9-24.