Veröffentlicht am 28.05.14

Mythos Neue Lernkultur

„Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da,
zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird?“ (Foucault)

Praktikumsbesuch in der 9. Klasse einer Hauptschule: Eine Studienanfängerin gibt die erste Stunde in ihrem Einführungspraktikum. Sie legt eine Folie als stummen Impuls auf und wartet die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler ab, bis die gewünschte Antwort kommt, die darin besteht, das Stundenthema zu erraten. Nach einer kurzen Erläuterung verteilt die Praktikantin diverse Arbeitsblätter mit dem Hinweis, die Schülerinnen und Schüler „dürften“ die Materialien allein bearbeiten, bei Schwierigkeiten sollten sie sich zunächst an den Nachbarn und danach gegebenenfalls an die Lehrerin wenden. Der überwiegende Teil der Stunde vergeht mit „Stillarbeit“, während derer die Praktikantin hier und da den Fortschritt der Arbeit überprüft und Hinweise gibt. Manche haben bereits nach zehn Minuten die Aufgaben gelöst, andere sitzen auch am Ende der Arbeitszeit noch vor einem fast leeren Blatt. In den letzten fünf Minuten der Stunde wird per Folie mit der Besprechung der Lösungen begonnen, die aber wegen des Klingelns nicht mehr beendet werden kann. Die Praktikantin zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden und dankt für die eifrige Mitarbeit.

Inwieweit dieser Stundeverlauf typisch für die gegenwärtige Unterrichtspraxis von Lehramtsanwärtern ist, sei dahingestellt, als Begleiter von Einführungspraktika beobachte ich aber seit etwa zwei Jahren die zunehmende Tendenz von Studienanfängern, sich aus dem aktiven Instruktionsgeschäft zurückzuziehen und in hohem Maße auf die Eigenaktivität der Schülerschaft zu bauen, obwohl das Einführungspraktikum dazu dienen soll, sich als Lehrperson zu erproben, also einen möglichst reflektierten Perspektivenwechsel vom Mitglied eines Schülerkollektivs zum primären Verantwortungsträger in der Klasse vorzunehmen, der die Lernprozesse dieses Kollektivs so effizient wie möglich anleiten soll.

Drücke ich in der Stundenbesprechung mein Bedauern darüber aus, dass ich von der Praktikantin oder dem Praktikanten als Lehrperson in dem skizzierten Sinne nicht viel habe wahrnehmen können, so bekomme ich eine erstaunlich professionell wirkende Antwort: Es entspreche doch nicht mehr dem modernen Bild vom Lehrer, dass er oder sie sich durch Frontalunterricht in den Mittelpunkt stelle, vielmehr gehe es darum, einen möglichst hohen Grad selbständiger Lerneraktivität zu stimulieren und als Lehrperson in den Hintergrund zu treten, die nur bei Problemen einzelner Schüler helfend eingreifen solle. Erstaunlich ist diese hier idealtypisch wiedergegebene Antwort insofern, als Praktikanten zu Beginn ihres Studiums wenn überhaupt nur rudimentär in die Grundlagen der Unterrichtsgestaltung eingeführt worden sind und wohl in der Regel während ihrer Schulzeit vorwiegend klassischen Frontalunterricht erlebt haben, was sie, folgt man den Befunden der Professionalisierungsforschung, zumindest am Anfang dazu disponieren müsste, den selbst erfahrenen Lehrerbildern auch in ihrer eigenen Praxis zu folgen. Wenn sie das nicht tun, so mag dies der „Neuen Lernkultur“ geschuldet sein, die seit einigen Jahren auch in der Schule als überfälliger „Paradigmenwechsel“ anscheinend so erfolgreich propagiert wird, dass selbst Studienanfänger schon etwas davon gehört haben und es umzusetzen versuchen.

Den ganzen Text als pdf: K.-H. Dammer: Mythos Neue Lernkultur