Veröffentlicht am 26.03.20

Mathematikunterricht auf dem Prüfstand

Eine Replik auf Prof. Olaf Köllers Beitrag: Nur besserer Unterricht hilft

Ein Beitrag von Markus Spindler und Prof. Dr. Hans Peter Klein

In seinem Artikel (erschienen in der FAZ vom 1.3.2020) beschreibt Prof. Olaf Köller zunächst einmal zutreffend die aktuelle Misere: viele Studenten brechen ein begonnenes Mint-Studium ab, da sie an den Anforderungen im Fach Mathematik scheitern. Dieser traurigen Tatsache wird niemand widersprechen. Auch dem in der Überschrift vorweggenommenen Fazit kann man uneingeschränkt zustimmen: wir brauchen besseren Mathematikunterricht.

Strittig dabei ist, wie denn erfolgreicher Mathematikunterricht zu gestalten ist. Dabei muss zuerst einmal analysiert werden, was die Ursachen für den offensichtlich oft nicht ausreichend guten Unterricht in diesem fundamentalen Fach sind. Das könnten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit –die folgenden sein: 1. Schlecht ausgebildete Lehrer; 2. Schlecht motivierte oder intellektuell überforderte Schüler; 3. Zu wenig Unterrichtsstunden; 4. Schlechte Schulbücher bzw. anderweitige Lernmedien; 5. Schlechte Lehrpläne. Auf diese Punkte soll im Folgenden jeweils eingegangen werden:

  1. In der Tat bemerken wir in der Praxis immer öfter, dass den für die Schule grundlegenden mathematischen Fertigkeiten offensichtlich an den Universitäten zu wenig Raum gegeben wird. Wenn Mathematikreferendare fragen, wieso es eigentlich unterschiedliche Begriffe wie Seitenhalbierende und Mittelsenkrechte gibt, das sei doch sowieso alles dasselbe, dann war an der Universität entweder der fachliche Lehrplan oder aber der Bewertungsmechanismus nicht adäquat justiert. Das sind aber eher Ausnahmen, in den meisten Fällen freuen wir uns über motivierten und fachlich versierten Nachwuchs.
  2. Unsere Schüler sind heute weder schlechter motiviert noch dümmer als vor 50 Jahren. Selbstverständlich – und auch das wird im Artikel richtig angesprochen – hat sich die Abiturientenquote seit Mitte der Neunziger Jahre noch einmal verdoppelt. Dies wurde auch offensiv von der Politik beworben und eingefordert. Hier wäre nun eine ehrliche Bestandsaufnahme von Nöten: Haben wir es geschafft, heute mehr als ca. fünf mal so viele junge Menschen auf das Bildungsniveau zu bringen, was 1970 eben nur einer kleinen Elite vorbehalten war? Und das auch noch bei sinkendem Intelligenzquotient in der Gesamtbevölkerung seit der Jahrtausendwende? Das wäre natürlich wunderbar und ganz nebenbei auch von großem volkswirtschaftlichem Nutzen. Wie erklären sich dann aber die zunehmenden Klagen der Universitäten? Oder ist heute vielleicht ein immer größerer Anteil der Abiturienten im Sinne der Universität nicht mehr studierfähig und bringt nicht mehr die erwarteten fachlichen Grundlagen für ein Hochschulstudium mit? Ohne hier schwarz-weiß malen zu wollen, dürften nahezu alle Experten aus Schule und Universität eher zu zweiter Erklärung tendieren, vor allem, da ausschließlich diese mit der beobachteten Faktenlage übereinstimmt.
  3. Da sich die Anzahl der Unterrichtsstunden bei wieder zurück gekehrtem G9 nicht wesentlich verändert hat, kann hier kaum der Grund gesucht werden. Interessanterweise wurde die Rückkehr zu G9 – gegen den erbitterten Widerstand der empirischen Bildungsforschung – aufgrund der Erfahrungen der leidgeprüften Eltern, Lehrer und Schüler hart erkämpft.
  4. In der Tat unterscheidet sich ein Mathematiklehrbuch von 2020 in für Laien nahezu unvorstellbarem Ausmaß von einem solchen aus dem Jahr 1970. Mathematiklehrer, denen ihr Fach am Herzen liegt, legen sich in Gesprächen unisono weit aus dem Fenster und sagen: mit 90% der heutigen kompetenzdominierten Bücher ist ein guter und zielführender Mathematikunterricht gar nicht möglich. Das liegt aber nicht daran, dass die Verlage Geld oder Papier sparen wollten. Wie vor 50 Jahren spiegeln auch die heutigen Bücher die aktuellen standardisierten Lehrpläne wider, sonst würden sie ja auch gar nicht zugelassen. Wir können also direkt mit Punkt 5 weitermachen.
  5. Lehrbücher fußen auf den Curricula und Curricula fußen auf den formulierten Mathematikstandards. Und diese sind nun einmal mangelhaft. Mangelhaft deswegen, weil an ihrer Erstellung Fachmathematiker gar nicht beteiligt waren. Die im Zuge des Paradigmenwechsels formulierten kompetenzorientierten Standards jedenfalls lassen jedwede Kohärenz zu den mathematischen Standards an der Universität vermissen.

Festzuhalten bleibt auch, dass dies längst nicht nur auf den Mathematikunterricht, sondern auf alle MINT-Fächer zutrifft (und nicht einmal nur auf die). Wer als Lehrer fachlich noch sehr gut ausgebildet und bereits seit vielen Jahren im Beruf ist, der bringt genügend Kenntnisse aber auch Selbstvertrauen mit, um beides – die Bücher und die Lehrpläne – zu ignorieren. Er ist in der Lage, einen Mathematikunterricht zu gestalten, der den Schülern die fachlichen Grundlagen nicht nur als Basis für ein Studium der MINT-Fächer, sondern auch für die in den Beruf wechselnden Schüler angemessen vermittelt. Denn auch von dieser Seite aus häufen sich die Beschwerden über mangelhafte Kenntnisse selbst in den grundlegenden Rechenarten nahezu exponentiell. Das Resultat eines solchen Unterrichtes vor allem in der Oberstufe ist dann, dass eine Mehrheit zumindest der Leistungskurs-Schüler, die ein MINT-Studium ergriffen haben, erfolgreiche Rückmeldungen übermittelt (Originalzitat): „Was in den Vorkursen an der Uni angeboten wurde, brauchten wir nicht, wussten wir alles schon, wir waren sogar besser als die Bayern.“

Mathematik ist ein Fach mit Schwierigkeiten, denen man sich stellen muss. Man kann – wie 1979 – ein Kapitel zu Folgen und Reihen unterrichten und damit dann mathematisch exakt den Grenzwertbegriff herleiten. Das ist sehr abstrakt und das haben damals 50% der Schüler wahrscheinlich eher auswendig gelernt als verstanden. Man kann aber auch im Sinne einer höheren Abiturientenquote einfach darauf verzichten und irgendwann postulieren, ein Grenzwert sei eine Richtung, in die man geht, wenn man mit dem Taschenrechner mal eine sehr große Zahl einsetzt. Das ist leicht – und das hat dann KEINER verstanden.

Man könnte an dieser Stelle noch einwenden, dass anscheinend ein guter Unterricht doch ganz offensichtlich möglich ist. Dazu sind zweierlei Dinge zu sagen: Junge und unerfahrene Kollegen orientieren sich an eben diesen Standards – woran denn sonst. Und: die Motivation der Schüler orientiert sich daran, was „abiturrelevant“ ist. Über die sogenannten „anwendungsbezogenen“ Abituraufgaben ist schon soviel geschrieben worden, dass man dies hier nicht weiter ausführen muss. Aufgabenstellungen, bei denen selbst mathematisch weniger begabte Schüler in schrille Lachkrämpfe ausbrechen, wenn beispielsweise ein Kioskbesitzer im Freibad nur Waren für 0 oder 4 oder 12€ verkauft, sind keineswegs die Ausnahme, sondern eher die Regel im Anwendungsphantasma ihrer Protagonisten frei nach dem Motto: jeder Anwendungsbezug, sei er auch noch so irreal, lächerlich oder gar dämlich, ist besser als keiner. Hoffentlich macht nirgendwo ein hoffnungsvoller Abiturient, ausgestattet mit diesem Praxiswissen, einen Kiosk auf!

Die Kritik von Fachmathematikern und Praktikern an dieser mehr als seltsam anmutenden und ins Nichts führenden Kompetenzorientierung aber generell als „anekdotisch“ abzutun, zeigt, dass hier die kompetenzorientierten Bildungsstandards als nicht zu kritisierende Ideologie wie eine Monstranz vor sich hergetragen werden. Denn diese sind keinesfalls evidenzbasiert, sondern schlichtweg von ihren Wegbereitern erdacht worden. Jedenfalls fehlt bisher eine konkrete sachliche Kritik oder gar Widerlegung der mittlerweile vielfach vorliegenden kritischen Analysen schriftlicher Zentralabiturarbeiten in Mathematik und Biologie und der dort nachgewiesenen Nivellierung der fachlichen Ansprüche vollständig.

Auch die im Artikel erwähnte harsche Kritik an den Vorgehensweisen vieler Universitäten, Studierende der MINT-Fächer zusammen mit Hauptfachstudierenden gemeinsam lernen zu lassen, anstatt eigene mathematische Lehrveranstaltungen auch für Gymnasiallehrer anzubieten, ist mehr als fragwürdig. Soll hier eine Art „Mathematik light“ dazu dienen, das Anspruchsniveau soweit abzusenken, um die Abbrecherquoten mit einer eigentlich nicht zu akzeptierenden Niveauabsenkung zu erkaufen? Schon jetzt ist das Fachstudium, beispielsweise der Gymnasiallehrer, im Fach Mathematik gegenüber dem der siebziger Jahre durch einen kontinuierliche Streichung teilweise grundlegender fachwissenschaftlicher Inhalte zugunsten der Bildungswissenschaften in großem Umfang in den letzten 15 Jahren erfolgt.  Dies trifft leider auf alle Fächer zu. Wenn mittlerweile im Fach Biologie selbst Gymnasiallehrer ohne Zweitfach Chemie je nach Bundesland keine oder kaum nennenswerte Veranstaltungen in Chemie, Physik oder gar Mathematik absolvieren müssen, fragt man sich, auf welchem fachlichen Niveau der Oberstufenunterricht im Fach Biologie heutzutage abläuft. Die Bereiche der Zellbiologie, Neurobiologie, Stoffwechselbiologie, Molekulargenetik oder der Mikrobiologie führen nur dann zu einem tieferen Verständnis, wenn die notwendigen fachlichen Grundlagen dafür gelegt sind. Das neuerdings oft zu hörende reformpädagogische Credo „Lass es uns zusammen googeln“ dürfte da wenig hilfreich sein.

Auch der vorgetragenen Meinung von Herrn Köller, in Fachbereichen wie den Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie und der Medizin sei dies bereits erfolgreich umgesetzt, fehlen die Belege. Jedenfalls werden gerade in den Wirtschaftswissenschaften oder der Volkswirtschaftslehre nicht nur der im Ranking führenden Standorte in Bonn oder Mannheim an die Erstsemester mathematische Anforderungen von Fachmathematikern gestellt, die bereits in den ersten beiden Semestern zu einer Abbrecherquote von 50% – 80% führen. Die indirekt dieser Forderung zugrunde liegende Nivellierung der fachlichen Ansprüche in den MINT-Fächern dürfte dramatische Folgen für den Standort Deutschland im internationalen Vergleich nach sich ziehen. Zumindest für den Fall, dass man noch ein Interesse daran hat, sich mit den führenden Nationen auf diesem Gebiet vergleichen zu wollen.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, was die empirische Bildungsforschung eigentlich erforscht. Fachliche Kompetenz auf Hochschulniveauabschluss besitzt sie jedenfalls in keinem Fach. Selbst die ihr zuarbeitenden Fachdidaktiker haben heutzutage eine deutlich höhere Affinität zur Methodik der empirischen Bildungsforschung als zu der in ihrem jeweiligen Fach. Zudem äußert Prof. Köller in seinem Artikel selbst, dass über den Mathematikunterricht in der Oberstufe so gut wie nichts bekannt sei. Zu glauben, dass eine wie immer auch geartete Datenerhebung über Schüllerleistungen tatsächlich deren Leistungsstand erfasst, ist mehr als vermessen. Bestehen überhaupt positive Korrelationen zwischen einem guten Abschneiden bei TIMSS oder PISA und dem erfolgreichen Bestehen eines Mint-Studiums? Wenn nicht oder nur in geringem Umfang, dann sollte man diese ganze Testeritis einfach einstellen und sich auf die für die Schüler und unsere Volkswirtschaft einzig wichtige Frage konzentrieren: Wie muss Mathematikunterricht aussehen, damit nach dessen Absolvierung ein Mint-Studium gelingt? Und hierzu möchten die Autoren dieses Artikels an dieser Stelle Herrn Prof. Köller zur folgenden Untersuchung an das Kreisgymnasium Halle herzlich einladen: Es bedarf dazu nur zweier von ihren Ausgangskenntnissen her vergleichbarer Kurse. Ein Lehrer macht Unterricht mit einem modernen Mathebuch nach den herrschenden kompetenzorientierten Standards, der andere orientiert sich an innerfachlichen mathematischen Zusammenhängen, Beweisen, Herleitungen und womöglich echten Praxisbeispielen und unterrichtet mit dem Lambacher-Schweizer der 70er Jahre. Und dann erheben wir keine ausgeklügelten Tests a la TIMSS und PISA, vergleichen keine Noten, füllen keine tausend Seiten Evaluationsbögen aus, sondern zählen einfach nur den Erfolg oder Misserfolg beim Mint-Studium in den ersten beiden Semestern.

Markus Spindler ist Mathematiklehrer und Oberstudiendirektor am Kreisgymnasium Halle in Westfalen.

Hans Peter Klein hatte bis 2018 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften an der Goethe Universität Frankfurt inne, war Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen und ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.