Veröffentlicht am 12.04.21

Mathematik – eine Crux für Verwöhnte?

Von Michael Felten. Erstveröffentlichung in: Deutsches Schulportal, 1.2.2021

Die Debatte über Qual und Qualität des Mathe-Unterrichts bleibt oft bei den Rahmenbedingungen und Unterrichtsmodalitäten hängen. Zwar sind volle Klassen, verkürzte Schulzeiten oder unübersichtlicher gewordene Schulbücher für’s Mathelernen nicht gerade förderlich. Wenn dann die Lehrkraft noch unnötig abstrakt erklärt, wenn sie zu wenig Wert darauf legt Muster und Strukturen deutlich werden zu lassen, wenn das Unterrichtsklima weder anregend noch fehlerfreundlich ist …

Kaum thematisiert wird hingegen, dass das Fach Mathe auch eine ganz spezifische Tücke hat. Zynisch gewendet könnte man ja sagen: In Englischstunden redet man nur miteinander, Deutschtexte werden oft zerredet, in Philosophie redet man mehr oder weniger gescheit im Kreis – in Mathematik aber gilt es zu denken. Hier geht’s also nicht um Meinungen, sondern um Logik; richtig oder falsch sind eindeutige Kategorien – und damit nicht verhandelbar. Deshalb wäre mit einer „Pädagogik der Ermäßigung“ (Fulbert Steffensky) – die Stoffmenge reduzieren, das Erarbeiten spielerischer gestalten, die Klassenarbeiten leichter machen – in Mathe auch nichts gewonnen.

Worin besteht eigentlich der Kern des Mathematiklernens? Der Mathematiker George Pólya charakterisierte die Stufen mathematischen Problemlösens – ob in Grundschule oder Gymnasium – so: Man muss das Problem zunächst erfassen, sodann einen Lösungsplan entwickeln, diesen auch durchführen und das Ergebnis abschließend beurteilen. Für die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern gilt deshalb: „Im Mathematikunterricht ist die geistige Aktivität des Verstehens entscheidend.“ Verstehen sieht sie dabei wesentlich als „Ergebnis eines aktiven Konstruktionsprozesses auf Seiten des Lernenden“ – also nicht einer simplen „Übertragung von Wissen vom Lehrenden auf den Lernenden“.

Verzärtelung und Verwöhnungsfalle

Aktiver Konstruktionsprozess – das hört sich gut an, ist aber genau die Crux. Schon vor 100 Jahren beobachtete Alfred Adler, Begründer der Individualpsychologie: „Rechnen ist für verzärtelte Kinder immer ein gefährliches Fach.“ Unter Verzärtelung verstand Adler das, was wir mittlerweile seelische Verwöhnung nennen – also nicht ein Übermaß an Bonbons, Klamotten oder Taschengeld, sondern die verbreitete elterliche Haltung, ihrem Schatz das Leben so erfreulich wie möglich zu machen, ihm Schwierigkeiten möglichst aus dem Weg zu räumen. Das aber wirkt auf Kinder gerade nicht förderlich, sondern eher entmutigend, schwächend – an Stolpersteinen hätten sie nämlich wachsen können, wäre ihr Selbstwirksamkeitsgefühl gereift. So haben sie sich daran gewöhnt, bei aufkommenden Problemen die Hände in den Schoß zu legen und auf Hilfe zu warten, entweder sofort oder jedenfalls zu früh. “ Und das ist in der Mathematik ein Problem – weil die Inhalte ab einem gewissen Level nicht mehr intuitiv zugänglich sind.

Je verwöhnter ein Kind ist, desto schwerer wird es sich deshalb damit tun, die für’s Mathelernen geistige Aktivität aufzubringen – etwas ausprobieren, sich Vorstellungen von Situationen oder Rechenhandlungen machen, die Enttäuschung von Irrwegen verkraften, nicht vorschnell aufgeben. Ganz zu schweigen von den Grundtugenden effektiven Lernens: sich konzentrieren, auch wenn man nicht im Mittelpunkt steht; gründlich genug üben, hartnäckig bleiben, auch wenn Erfolge sich nicht im Handumdrehn einstellen. Verwöhnte Kinder aber gibt es heute viele, quer durch alle Schichten – Albert Wunsch sprach von der „Verwöhnungsfalle“ in der modernen Erziehung.

Wenn Schüler Schwierigkeiten mit Mathe haben, dann kann das zwar am Lehrer liegen. Häufige Ursache ist aber auch der Schüler selbst: seine Motivation und seine Arbeitshaltung, bisweilen auch entmutigende Vorerfahrungen in diesem Fach – oder auch nur Stofflücken, präziser gesagt „nicht bewältigte fachliche Hürden“ (Wolfram Meyerhöfer): die Ablösung vom zählenden Rechnen, das Verständnis des Stellenwertsystems oder die Logik der Rechenoperationen. Etwaige Intelligenzunterschiede sind demgegenüber für pädagogisches Handeln nachrangig: Zwar kann nicht jedes Kind ein Mathegenie werden – aber jedes kann jederzeit dazulernen.

Was täte Kindern also gut, wenn sie im Schulfach Mathematik erfolgreich sein wollen? Zunächst eben Eltern, die sie nicht verwöhnen, sondern Ihnen schon als Kleinkind – neben emotionaler Sicherheit – vielfältige Herausforderungen und kalkulierte Belastungen bieten. Sodann Lehrer, die durchgängig um kognitive Aktivierung ihrer Schüler bemüht sind: ihnen Raum für mathematische Erfahrungen geben; sie anregen, eigene Lösungswege zu suchen oder Verständnishürden zu identifizieren; sie Zusammenhänge mitvollziehen lassen; aber auch Entdecktes gründlich sichern und vernetzen. Nicht zuletzt dürfen Kultusbehörden die fachlichen Erwartungen nicht unnötig niedrig hängen: Denn die Forschung spricht dafür, dass anspruchsvoller, am Verstehen orientierter Matheunterricht nicht zu Lasten der schwächeren Schüler geht.

Der Pädagoge und Publizist Michael Felten arbeitete mehr als 30 Jahre als Lehrer für Mathematik und Kunst an einem Kölner Gymnasium.  Jetzt ist er als freier Schulentwicklungsberater tätig und beantwortet Fragen unter www.eltern-lehrer-fragen.de. Felten ist außerdem Autor pädagogischer Sachbücher. Zuletzt erschien von ihm „Unterricht ist Beziehungssache“, Reclam, 2020.</small >