Veröffentlicht am 11.11.23

Mathe im Griff

Die Deutsche Telekom Stiftung vereinnahmt zunehmend den Mathematikunterricht in Deutschland. Der Staat macht mit.

Von Wolfram Meyerhöfer

Wer in Deutschland Mathematik-Lehrer werden will, lernt die Grundlagen des Unterrichtens in Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Mathematik. Die Mathematikdidaktik ist eine kleine wissenschaftliche Disziplin, ihre Berufsgesellschaft hat nur etwa 1000 Mitglieder. Anhand dieser kleinen Wissenschaftsgemeinschaft lässt sich lernen, wie Großkonzerne ganze Disziplinen okkupieren können. Mit Brandenburg lässt nun erstmals ein ganzes Bundesland ein Schulfach von einer Konzernstiftung dominieren.

Klaus Kinkel hilft seinem Enkel

Klaus Kinkel initiierte nach seiner Zeit als Bundesaußenminister in den 2000er-Jahren die Deutsche Telekom Stiftung (DTS). Weil einer seiner Enkel mit seinem Mathematikunterricht fremdelte, entdeckte Kinkel die Mathematikdidaktik als Wissenschaft vom Mathematikunterricht und etablierte die DTS als deren finanzkräftigen Förderer. Für die Projekte der Deutsche Telekom Stiftung gibt es dabei im Regelfall kein offenes Bewerbungsverfahren, sondern die Wissenschaftler müssen direkt in die Stiftung hinein netzwerken. Entscheidungen über Zuwendungen erfolgen nach Gusto der Stiftung und außerhalb von Nachvollziehbarkeit.

In der einstmals randständigen und eher mittellosen Community der Mathematikdidaktik regnete es plötzlich Geld. In den universitätsinternen Drittmittel-Rankings konnten Mathematikdidaktiker plötzlich mit großen Summen und dem großen Namen „Telekom“ punkten.

Da die Einwerbung von Drittmitteln mittlerweile ein zentrales Kriterium bei Berufungen auf Professuren auch in der Mathematikdidaktik ist, bestimmt die DTS indirekt in starkem Maße darüber mit, wer in Deutschland eine Professur für Mathematikdidaktik erhält und wer nicht. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass immer mehr Mitglieder von Berufungskommissionen und Gutachter in Berufungsverfahren mit der DTS verbandelt sind. Es gibt sogar Ausschreibungen an öffentlichen Universitäten, in denen die Zusammenarbeit mit Projekten der DTS zum Auswahlkriterium erklärt wird. Dies betraf zum Beispiel über Jahre hinweg alle Mathematikdidaktikprofessuren an der Universität Paderborn.

Die Nation im Zentrum

Im Jahr 2011 gründete die DTS eine didaktische Großstruktur zur Lehrer(fort)bildung, das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Für den noch hochtönenderen Namen „Nationales Zentrum für Lehrerbildung Mathematik“ hatten Bildungsministerien Unbehagen signalisiert. Bereits auf der ersten Tagung des DZLM im Jahr 2012 forderten die Gründer, dass das DZLM nach Ablauf der Anfangsfinanzierung durch staatliche Strukturen finanziert werden solle. Der damalige Präsident der Kultusministerkonferenz, Ties Rabe, widersprach dieser Forderung in seinem Grußwort mit der Begründung, dass es strukturell problematisch sei, wenn private Initiativen (sofort) eine Übernahme in staatliche Finanzierung postulierten.
Acht Jahre später gelang die Übergabe in staatliche Finanzierung: Mit Beginn des Jahres 2020 wurde das DZLM an das IPN (Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel) angebunden, welches dafür eine Außenstelle an der Humboldt Universität Berlin schuf. Die Finanzierung erfolgt durch den Bund und die Länder Berlin und Schleswig-Holstein. Das entlang der Interessen der DTS engagierte Personal wurde übernommen.

Inhaltliche Engführung statt breiter Förderung

Die von der Deutsche Telekom Stiftung geförderten Projekte zeigen, dass die Stiftung ihr Gestaltungspotential nutzt, um bestimmte Themen und Denkrichtungen zu forcieren und andere Themen und Denkrichtungen außen vor zu lassen. In der Gesamtschau führt dies dazu, dass die Inhalte und Methoden der Mathematikdidaktik und damit gewissermaßen auch des Mathematikunterrichts in Deutschland in ihrem Mainstream von der Deutsche Telekom Stiftung mitgesteuert werden.
Auch das DZLM als Kind der Telekom-Stiftung wird entlang bestimmter Themen und Denkrichtungen geführt, andere Themen und Denkrichtungen werden nicht zugelassen. So werden zum Beispiel unkritisch Projekte zur Digitalisierung gefördert, wohingegen kritische Auseinandersetzungen mit der Digitalisierung von Lernprozessen oder die Auseinandersetzung mit nichtdigitalen Alternativen kaum Raum haben. Gleiches gilt etwa für kritische Auseinander­setzungen mit der Funktion von Mathematikunterricht in unserer Gesellschaft und Kultur, mit der Rolle von Mathematikunterricht bei der Reproduktion der Sozialstruktur oder für die Auseinandersetzung mit standardisierten versus offeneren Formen der Beurteilung von Leistungen.

Sinnvollerweise ist es fester Bestandteil von Fortbildungsprogrammen, dass Fachmathematiker Vorträge halten, in denen sie ihre Fachthemen oder Bildungsansprüche in der Lehrerschaft bekannt machten. Dies kommt im DZLM ebenso selten vor wie das konkrete Arbeiten am Unterricht des einzelnen Lehrers.
Auch Lehrkräfte, die eigene Unterrichtskonzeptionen oder pädagogische Ideen entwickelt haben, haben keinen Raum im DZLM. Diese werden durch immer engere formale Vorgaben ohnehin bereits systematisch von Publikationen in der Mathematikdidaktik ausgeschlossen – durch die starke Stellung des DZLM werden sie es künftig immer schwerer haben, als Anbietende in Fortbildungsprogramme zu kommen. Das DZLM kennt Lehrer nur als Probanden professoraler Ideen, eigenständige Denker unter den Lehrern finden im DZLM keinen Ort.

Fortbildung: Standardprodukte statt Kultur der geistigen Anregung

Das DZLM produziert mathematische Lehrerfortbildungen. Im Grunde ist es ein staatlicher Konzern, der seine Produkte an die Bundesländer verkauft – wobei die einzelnen Lehrkräfte diese Produkte dann meist kostenlos erhalten. Im Ganzen produziert das DZLM standardisierte Fortbildungen entlang der Struktur: Ihr habt das Problem, wir haben die Lösung. „Ihre Schüler kommen mit Lücken aus der Grundschule? Hier ist ein Material plus Fortbildung dafür.“ „Ihre Schüler tun sich schwer mit Bruchrechnng? Wir wissen, wie es geht.“ Bedient wird ein Bedürfnis nach Bedienungsanleitungen für nicht funktionierende Schülerhirne.

Solche standardisierten Produkte sind durchaus punktuell sinnvoll. Man arbeitet ja auch mit Lehrbüchern als standardisierte Produkte. Der Hauptfokus von Lehrerfortbildung sollte aber nicht im Nachholen fachdidaktischer Uni-Lehre plus Materialverkauf liegen. Bei der Fortbildung von Lehrkräften geht es im Kern um geistige Mobilisierung. Lehrkräfte sind studierte und hochbezahlte Spezialisten, die allein auf sich gestellt in einem fachlich anregungsarmen, sozial aber anspruchsvollen Umfeld arbeiten. Lehrkräfte brauchen nicht so sehr das Belehrtwerden. Sie brauchen Orte, an denen sie als Partner im Diskurs um die Entwicklung ihres Unterrichts ernst genommen werden. Und sie brauchen sehr unterschiedliche Anregungen. Mal will man etwas Fachliches hören, mal etwas über das Unterrichten von Trigonometrie, und mal braucht man eher einen Unterrichtsdisziplinworkshop.

Eine staatliche Fortbildungsinstitution müsste kritische Diskussionen über Mathematikunterricht in die Lehrerschaft tragen und eine Vielfalt von intellektuellen Anregungen bieten. Das DZLM als Interessenträger der Deutsche Telekom Stiftung lässt aber nur Personal und Projekte in seine Struktur, welche solche Auseinandersetzungen und Anregungen tendenziell vermeiden. Das affirmativ auf die Interessen der DTS ausgerichtete Personal wurde umstandslos in eine staatliche Finanzierung gesetzt. Das ist problematisch genug. In kleinen Bundesländern übernimmt das DZLM nun aber sogar weitgehend die Fortbildung.

Monopolisierung der Fortbildung

Ein Beispiel gibt Brandenburg. Das Land war ein Vorreiter der datengestützten Schul- und Unterrichtssteuerung und wird in Vergleichsstudien als ewiger Tiefflieger abgebildet. Im Bildungsministerium gibt es keinen Fachreferenten für Mathematikunterricht, weil statt Fachstrukturen nur Strukturen für Datenerzeugung existieren und keine fachliche Führung stattfindet. Das Ministerium verpflichtet Lehrkräfte zur Durchführung von vielerlei Lernstandsanalysen und Lernausgangslagenuntersuchungen. Diese binden enorme Ressourcen bei den Lehrkräften und Schülern, sie geben aber kaum nutzbare Informationen für die Unterrichtsgestaltung. Auch Führung kann entlang dieser Daten nicht stattfinden.

In Brandenburg wurden 24 Lehrkräfte teilabgeordnet. Sie werden künftig im Rahmen des sogenannten QuaMath-Programms durch das DZLM geschult und geführt. Dieses bundesweite Projekt ist über 10 Jahre angelegt und standardisiert die Fortbildung in einem Maße, welches selbst Margot Honecker gewundert hätte. Die DZLM-Wissenschaftler wissen ganz genau, wie guter Unterricht funktioniert, und sie tragen dieses Wissen nun Schritt für Schritt an die Lehrkräfte heran, die das leider noch nicht wissen.

Die Fortbildungs-Ressourcen des kleinen Bundeslandes sind mit diesem Projekt weitgehend gebunden. Strukturell passt dieses Outsourcing der Fortbildung sehr gut zur datengestützten Unterrichtssteuerung – konsequent stehen Wissenschaftler und Administratoren in der Ferne und rufen der Lehrkraft zu: „Du musst deinen Unterricht verbessern!“. Inhaltlich bleibt es aber bei einer Situation, in der die Lehrkräfte als Akteure nicht ernst genommen und ihre professionellen Ressourcen kaum entwickelt werden.