Veröffentlicht am 01.12.14

Man muss nicht studieren, um etwas zu sein

Bei einem Vortrag stellte der Münchner Philosoph Julian Nida-Rümelin Anfang Juli auf Einladung der IHK Cottbus Südbrandenburger Unternehmern seine Thesen zum Akademisierungswahn vor und erläuterte sie im „FORUM“-Interview.

Forum: Welche Rolle spielt der Status bei der Wahl des Ausbildungsweges? Warum zähle ich in Deutschland nur etwas, wenn ich studiert habe?

Nida-Rümelin: So ist es ja nicht: Tatsächlich verdienen ausgebildete Techniker in Deutschland im Durchschnitt mehr als zum Beispiel Hochschuldozenten in den Geistes- und Kulturwissenschaften. In Deutschland war es bis heute eben keineswegs ausgemacht, dass man nur über ein wissenschaftliches Studium einen attraktiven Beruf ergreifen und anständig verdienen kann. Wir müssen aufpassen, dass wir eine unglückliche Propaganda, die es über viele Jahre in der Tat gegeben hat, nicht mit der Berufsrealität verwechseln. Meine Botschaft ist, dass es schlicht unzutreffend ist, man müsse studieren, um etwas zu sein. Wir haben, anders als in den meisten Ländern der Welt und speziell in den USA, attraktive Wege in attraktive Berufe mit guten Zukunftsperspektiven – auch ohne Studium.

Forum: Wenn immer mehr junge Menschen Abi machen und studieren, besteht dann die Gefahr, dass akademische Berufe und Ausbildungsberufe gleichermaßen abgewertet werden?

Nida-Rümelin: Dies ist genau meine Sorge – Die Universitäten, an der 70 Prozent aller Studierenden sind, sind auf Forschung orientiert, das heißt die Professorinnen und Professoren haben sich über meist hervorragende Forschungsleistungen qualifiziert. Sie haben in der Regel keinen Bezug zu beruflichen Tätigkeiten und keine oder wenig Praxiserfahrung. Wenn 60 Prozent eines Jahrgangs – und die Entwicklung dahin zeichnet sich gegenwärtig ab – studieren und davon die allermeisten an Forschungseinrichtungen, dann lässt sich diese Ausrichtung nicht aufrechterhalten. Wir hätten dann in der Breite ein falsch qualifiziertes Lehrpersonal und Studierende mit falschen Erwartungen an die Hochschulen. Wenn umgekehrt aufgrund einer exorbitanten Zahl von Studierenden pro Jahrgang nur noch diejenigen, die sich auf ihrem Bildungsweg schwer getan haben, für Ausbildungsberufe zur Verfügung stehen, dann werden diese zwangsläufig abgewertet. Nur wenn sich ein breites Spektrum von Begabungen in der beruflichen Bildung abbildet, hat diese eine gute Zukunft. Zudem gibt es keine seriöse Studie, die auch nur annähernd einen Akademikerbedarf von 50 Prozent für die Zukunft prognostiziert. Vielmehr bestehen schon jetzt die dramatischsten Engpässe bei Lehrlingen und beruflich Qualifizierten, nicht bei Studierenden und Akademikern.

Forum: Sind mehr Auswahl und Koordinierung nötig? Sollte bereits der Zugang zum Abitur stärker reguliert werden?

Nida-Rümelin: Zunächst muss die Propagandamaschine, wonach möglichst viele studieren sollten, gestoppt werden. Sie hat, wenn auch mit einer gewaltigen Verzögerung, unterdessen allzu viele, die für ein Studium nicht geeignet sind, dazu veranlasst, ein Hochschulstudium zu beginnen, wie die deutlich angestiegenen Abbrecherquoten trotz Absenkung der Qualifikationsanforderungen infolge von Bologna zeigen. Wir sollten auch nicht beklagen, dass sich immerhin 20 Prozent mit Hochschulzugangsberechtigung gegen ein Studium entscheiden und wir sollten diejenigen, die frühzeitig merken, dass ein Studium für sie nicht geeignet ist, ermutigen, in die berufliche Bildung zu wechseln. Allerdings heißt dies auch, dass die berufliche Bildung, das duale System und die vollausbildenden Berufsschulen ihre Attraktivität erhöhen sollten, auch für diejenigen, die eine Hochschulzugangsberechtigung haben.

Das ganze Interview als PDF: 20140915_Forum_IHK Cottbus_Man muss nicht studieren um etwas zu sein