Veröffentlicht am 22.06.23

Lehrpersonen gäbe es genug, aber sie bleiben nicht im Beruf

Die Schweizer Schulen suchen nach wie vor qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer; ausgebildet werden eigentlich genügend. Doch viele wandern ab oder reduzieren ihr Pensum. Die Bildungspolitik aber ignoriert die Ursachen des Problems; sie schaut weg.

«Robinson Crusoe» von Daniel Defoe zählte in den Jugendjahren zu meiner Lieblingslektüre. Wie habe ich mit dem Schiffbrüchigen mitgezittert! Im Sturm läuft sein Boot auf Grund; Robinson rettet sich an Land. Dann kontrolliert er das Wrack und verschafft sich einen Überblick, macht Inventur und analysiert die Lage. Zielgerichtet geht er ans Werk.

Wer die derzeitige Bildungssituation betrachtet, spürt: Auch in der Bildung sind wir da und dort auf Grund gelaufen, sind wegen Überbürokratisierung manövrierunfähig geworden, vergassen in der stürmischen Reformflut den Kompass und verloren vielfach die Zielkoordinaten aus den Augen. Wir haben das Bildungsboot inhaltlich weit überladen. Viele Lehrkräfte fliehen darum von Bord oder ziehen sich in Teilaufträge zurück. Die NZZ spricht vom «Notfall» Klassenzimmer. Wie bei Robinson braucht es ist eine ungeschönte Lageanalyse.

Pädagogik und Bürokratie passen nicht zusammen
Allerdings will kaum jemand die wirklichen Ursachen benennen. Die Kernproblematik bleibt tabu. Die Stäbe in den Bildungsdirektionen flüchten ins Oberflächliche und Unverbindliche. Sie berufen sich auf Pensionierungen, auf Lohnfragen und gestiegene Schülerzahlen. Dabei ist man sich hinter vorgehaltener Hand längst einig, dass die üppige Bürokratie viele Lehrer aus dem Beruf vertreibt. Es ist das, was unter dem Stichwort «Papierkram» daherkommt: Formulare, Berichte, Dokumente. Bildungsverwaltung und Administration wollen Schule und Unterricht von oben steuern; sie wollen standardisieren und reglementieren. So sind für Elterngespräche achtseitige Kriterienraster mit 157 Kompetenzen vorgeschrieben. Da heisst es für ein Kind der fünften Klasse beispielsweise: «Kann Problem- und Konfliktlösungen auf unterschiedlichen Ebenen vergleichen, z.B. Innerschweizer Eidgenossenschaft», unterteilt in vier Niveaustufen. Ein solch enges Raster erstickt jeden persönlichen Austausch.

Vorgaben und Vorschriften wachsen und wuchern. Pädagoginnen aber sollten kreativ sein und spontan gestalten können. Das bedingt Freiheit und Freiraum. Humane Energie fürs Pädagogische resultiert aus Freiheit, nicht aus Direktiven und Dekreten. Gute Pädagogik und Bürokratie passen nicht zusammen. Organisation aber kommt heute vor Interaktion: Da wird gemessen und getestet, evaluiert und verglichen, korreliert und prognostiziert wie noch nie. Freude haben höchstens die Beratungsbüros. Dicke Berichte entstehen und neue Erlasse. Viele Lehrpersonen fühlen sich darum gefangen in den Tentakeln administrativer Fesseln. Sie beklagen das Korsett künstlich konstruierter Komplexität heutiger Schulwelten. «Schule in Ketten», resümiert ein erfahrener Lehrer seine Unterrichtsjahre. Doch die Bildungspolitik blickt konsequent weg.

Die Grundschule hat sich inhaltlich entgrenzt
Viele spüren, dass der Lehrplan 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen auf der Primarstufe und der Fülle von Kompetenzen überladen ist. Wer die Fachinhalte ausdehnt, minimiert die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das Gesetz der Gegenbuchung! Darunter leiden vor allem der Kernbereich Rechnen und das Grundlagenfach Deutsch mit den Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Das macht guten Lehrerinnen und engagierten Pädagogen zu schaffen. Sie hetzten von Thema zu Thema, beklagen manche – ohne die nötige Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne genügend Freiraum fürs Erlebnis und das Musische. Das hat seinen Grund: Die Primarschule hat sich inhaltlich entgrenzt. Gleichzeitig weiss man seit langem um den minimen Wirkeffekt vor allem von Frühfranzösisch. Die Langzeitstudie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger weist dies nach; sie stellt den propagierten Wert der frühen Fremdsprachen infrage. Die Bildungspolitik verschliesst die Augen.

Viele erleben, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum und erschwert den Unterricht. Die Koordinationsabsprachen mit all den Betreuungspersonen sind anspruchsvoll; der administrative Aufwand steigt. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht; oft verkommt er gar zur Nebensache. Viele Lehrpersonen können das nicht verantworten und ziehen die Konsequenzen. Auch hier schauen die Stäbe weg.

Auf den Kernauftrag besinnen
Nach dem Kentern seines Schiffes verschaffte sich Robinson Überblick. Er analysierte die Lage und konzentrierte sich aufs Wesentliche. Das gilt auch für die Bildungspolitik. Will sie den Lehrermangel beheben, muss sie sich auf den schulischen Kernauftrag besinnen. Schiffbrüchige sind sonst die Schulkinder.

Carl Bossard
(publiziert in: NZZaS, 1. Juni 2023, S. 19)