Veröffentlicht am 24.11.12

Kompetenzwahn

Wie lernt man Gehen? Indem man es übt.

Von Christoph Türcke

Greifen und krabbeln können die Kleinen bereits, dann hangeln sie sich an Stäben, Stühlen, Tischen empor, plumpsen anfangs um, bleiben schließlich stehen, beginnen das Gleichgewicht zu halten und machen eines Tages, tapp, tapp, tapp, die ersten ungelenken Schritte. Gehen ist eine motorische Koordinationsleistung, die nahezu alle Kinder mit gesunden Gliedmaßen im zweiten Lebensjahr erbringen. Aber wenn man sie später fragt: »Wie hast du Gehen gelernt?«, dann wissen sie es nicht. Es genügt ihnen, dass sie es können.

Gehen ist ein Können. Es lässt sich relativ präzise umschreiben und überprüfen. Kind X erweist sich als fähig, von hier nach da zu gehen, also erfüllt es eine entscheidende Voraussetzung für den Kindergarten. Auf dieses Grundmuster der Leistungskontrolle hat die internationale Bildungspolitik in den letzten Jahren den gesamten Lernprozess zugeschnitten. Nicht was einemeingetrichtert wurde, zählt im Leben, sondern was er kann: seine Kompetenz, wie es im Fachjargon heißt.

Das lateinische competere ist schwer zu übersetzen. Wörtlich heißt es »zusammen zugreifen«. Gemeint ist damit der geordnete, rechtmäßige Zugriff auf etwas, die Zuständigkeit, die sachkundige Befugnis dafür. Das war selbst noch das Kriterium, als die Linguisten von »Sprachkompetenz« zu reden begannen
und damit meinten: Über den »richtigen« Umgang mit den Marotten natürlich gewachsener Sprachen können letztlich nur kundige Muttersprachler entscheiden. Bald aber verdünnte sich »Sprachkompetenz« zu der unspezifischen Fähigkeit, Worte und Sätze zu bilden, und es dauerte nicht lange, bis »Kompetenz« zu einem allgemeinen Synonym für »Fähigkeit« absank, was umgekehrt dazu führte, dass jede überhaupt nur registrierbare Fähigkeit in den Rang einer Kompetenz aufstieg.

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