Veröffentlicht am 30.09.19

‚Katastrophe‘ ist gar kein Ausdruck. Über Bildung – heute

Gastbeitrag von Prof. Dr. Christian Geulen

 

1964 konstatierte der Altphilologe Georg Picht eine „bundesdeutsche Bildungskatastrophe“. Die Zahlenverhältnisse haben sich seither zwar drastisch verändert. Doch die Lage der Bildung ist dramatischer denn je. Die Universitäten sind durch Pädagogisierung, Didaktisierung, Ökonomisierung zu bloßen Ausbildungsstätten geworden. Eine Streitschrift.

Am gebildeten Menschen, so konstatierte Wilhelm von Humboldt einmal, wird sich die Verfassung eines Staates zu prüfen haben. Damit war weder gemeint, den Gebildeten mehr Macht als dem Staat zu geben, noch eine Gelehrtenrepublik einzurichten. Vielmehr ging es Humboldt um das, was seinen Begriff von Bildung im Kern ausmachte: ihre prinzipielle Unabhängigkeit von vorgegebenen Zwecken und ihr eigener Zweck als Prüfungsinstanz für den Sinn menschlicher Einrichtungen. Auch Humboldt kannte Ausbildungs- und Karrierewege, die konkrete berufliche Ziele und Zwecke hatten. Sie sollten aber darüber hinausgehen und die Gebildeten in die Lage versetzen, aus sich heraus im eigenen beruflichen wie gesellschaftlichen Umfeld das zu erkennen, was im Sinne der Allgemeinheit, der Wahrheit und der Menschlichkeit verbesserungswürdig sei.

Im heutigen und zumal im deutschen Bildungssystem ist davon kaum mehr etwas übrig. Bildung ist kein Ziel und Zweck des Individuums mehr, sondern nur noch Mittel seiner gesellschaftlichen Beitrags- und Leistungsfähigkeit. Wer heute in bildungspolitischen Diskussionen noch Humboldt zitiert, gilt als veraltet. Stattdessen sind schon seit einer Weile ganz andere Maximen bestimmend: die Pädagogisierung der Bildung etwa, also ihre Verwandlung in ein Erziehungssystem; ihre Didaktisierung, also die Verwissenschaftlichung ihrer eigenen Vermittlung; oder ihre Ökonomisierung, also ihre Ausrichtung an messbarer Effizienz. Von diesen Transformationen ist besonders die geisteswissenschaftliche Bildung betroffen, weil hier individuell-selbstständige Erkenntnisse strukturell relevanter sind als akkumulierte. Dazu drei kurze Blicke in den universitären Alltag der Geisteswissenschaften in Deutschland:

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Zuerst erschienen am 24.4.2019 in „Geschichte der Gegenwart“.