Veröffentlicht am 30.08.12

Inklusive Bildung – Sinnvolles Leitprinzip oder pädagogische Wohlfühlformel?

Seit die Behindertenrechte mit einer eigenen UN-Konvention gestärkt worden sind, hat die Forderung nach einem inklusiven Bildungssystem deutlich Auftrieb bekommen. Auch viele katholische Verbände haben sich diese Forderung inzwischen zu eigen gemacht. Doch ist das neue Leitbild durchaus umstritten.

Soll über den Weg der Inklusion ein Einheitsschulsystem durchgesetzt werden, für das bisher der politische Konsens fehlte? Werden am Ende davon alle profitieren? Oder werden durch „Inklusion um jeden Preis“ nicht allein leistungsstarke Schüler in ihrer Entfaltung behindert, sondern auch bisherige Erfolge in der sonderpädagogischen Förderung verspielt? Die Frage liegt nahe, ob der Boom spezieller Hochbegabtenförderung nicht zumindest zum Teil auch einen Reflex auf die zunehmende Nivellierung schulischer Leistungsansprüche darstellt.
Ein Teil der Eltern droht damit, auf gerichtlichem Wege zu erzwingen, dass ihr Kind nicht auf eine Förderschule gehen muss. Zugleich melden sich Stimmen aus Behindertenverbänden zu Wort, die den Erhalt leistungsfähiger und differenzierter sonderpädagogischer Einrichtungen im Sinne einer optimalen individuellen Förderung anmahnen. Überdies seien behinderte Kinder zur Entwicklung ihres Selbstbewusstseins durchaus auf eine Gleichaltrigengruppe angewiesen, in der sie sich nicht immer nur als der einzige Rollstuhlfahrer oder einzige Gehörlose erfahren.

„Vielfalt“ noch kein Wertbegriff

Der Münchner Heilpädagoge Otto Speck zählt zu den besonnenen Stimmen in der Debatte um Inklusion. Er hat davor gewarnt, die Forderung nach „einer Schule für alle“ verkomme zur „puren Utopie“[i], sollte sie überzogen werden. Denn „Vielfalt“ an sich ist noch kein Wertbegriff, schon gar nicht werden alle Ungleichheiten durch ein bloßes Mehr an Vielfalt pädagogisch unwirksam. Die Schule ist in erster Linie eine Bildungseinrichtung, kein Instrument des Sozialstaates. Sie hat die Aufgabe, ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion zu leisten – aber mit den ihr eigenen Mitteln. Inklusion ist zunächst ein sozialwissenschaftlicher Begriff, soll er pädagogisch wie ethisch Geltung beanspruchen, muss gefragt werden, in welchen Fällen und unter welchen Bedingungen sich ein Mehr an Vielfalt tatsächlich in erfolgreicheres Lernen umsetzen lässt – und wann nicht.

Das sind wir den einzelnen Schülern schuldig, von denen jeder für sich ein Recht darauf hat, bestmöglich gefördert zu werden; dies gilt sowohl hinsichtlich besonderer Bedürfnisse und Gefährdungen, aber auch besonderer Begabungen und Fähigkeiten. Ferner ist der Einsatz begrenzter Ressourcen niemals ethisch neutral. Ein kostspieliger Umbau des gesamten Bildungssystems bindet Mittel, die möglicherweise an anderer Stelle fehlen oder pädagogisch sehr viel effektiver hätten eingesetzt werden können, auch für Schüler, die besonderer Förderung bedürfen.

Der Beitrag von PD Dr. Axel Bernd Kunze ist in Heft 2/2012 der Zeitschrift „Thema Jugend“ („Bild‘ Dir Deine Bildung“) erschienen. Unten gibt es das vollständige Dokument als PDF: Kunze_Inklusive Bildung


[i] Otto Speck: Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und Realität, München/Basel 2010, S. 71.