Veröffentlicht am 14.10.15

Individualisiertes Lernen. Hilflos gegenüber dem Machtapparat

Gastbeitrag von Rainer von Kügelgen

»(Noch immer das hölzern pedantische Volk,

Noch immer ein rechter Winkel

In jeder Bewegung, und im Gesicht

Der eingefrorene Dünkel.

 

Sie stelzen noch immer so steif herum,

So kerzengerade geschniegelt,)

Als hätten sie verschluckt den Stock,

Womit man sie einst geprügelt.«

(Klammern und Hervorhebung vom Verf.)

 

Mit diesen Versen schenkt uns Heinrich Heine 1844 in »Deutschland, ein Wintermärchen« die geniale Analyse eines Mechanismus, mit dem es gelingt, äußere Unterdrückung dadurch überflüssig zu machen, dass sie sich in verinnerlichte Gesinnung umsetzt. Ein solches Umsetzen – in Heines Bild das Betreiben und Organisieren der Schluckprozedur – ist das individualisierte Lernen (IL) und uns Lehrer will es zu seinen »coaches« machen.

Das individualisierte Lernen wird von einer großen Koalition aus Schulpolitikern und Bildungsbürokratie, Studienseminaren und Institut für Lehrerbildung (LI), fremdgehenden Gehirnphysiologen und Wanderprofessoren, Schulinspektionen und selbsternannten pädagogischen Päpsten, Schweizer Gurus und marktschreierischen Scharlatanen als Passierschein in das Schulparadies des 21. Jahrhunderts gepriesen.

Ja, wie ein Dukaten-Scheißesel soll IL sogar die flächendeckende Inklusion mit ihren zahlreichen Herausforderungen und ungelösten Problemen zum Billig- und die prinzipielle Binnendifferenzierung zum Nulltarif ermöglichen. Keine Woche vergeht ohne weitere Elogen auf IL als Wundermittel gegen alle Sünden der Vergangenheit und alle Übel der Gegenwart. Doch hat man nicht seinerzeit auch vom Heroin Vergleichbares versprochen? Und so besteht auch IL bei genauerem Hinsehen im Wesentlichen aus Risiken und Nebenwirkungen.

Der teilweise putschartig durchgezogene Versuch, IL flächendeckend als Standardmethode festzuschreiben, verbrennt große Mengen von anderswo fehlenden Mitteln, wird massiv vom LI und vom HIBB (Berufsbildung) gepowert, von den Schulinspektionen und in der Referendarsausbildung in erpresserischer Weise gefördert, in den Schulen mit Sondermitteln und Stundenentlastungen gepäppelt, von Schweizer Gurus und Hamburger Modejournalisten in Großveranstaltungen propagiert.

Dennoch stößt er unter den Lehrkräften auf den zähen Widerstand nicht nur der alten Hasen, denen dieser missionarische Eifer aus guter Erfahrung nicht koscher vorkommt. Solcher Ablehnung soll mit den folgenden Thesen Beistand geleistet werden. Gleichzeitig sollen die Thesen Bedenken zur Verfügung stellen: und zwar sowohl denjenigen, die IL vielleicht ein wenig blauäugig oder doch schon verharmlosend als eine Art zusätzlicher Nachhilfe im Rahmen der schulischen Methodenvielfalt konzeptualisieren als auch denjenigen, die dabei wohlmeinende Beispiele aus ihrer näheren Umgebung vor Augen haben, wie sie sich möglicherweise aus einer den gesellschaftlichen Zusammenhang ausblendenden Froschperspektive darstellen können.

 

Den vollständigen Beitrag als PDF: hlz_1-2-2012_Thesen zum IL