Veröffentlicht am 14.04.22

Handwerkermangel – Deutschland im Akademisierungswahn

Eklatanter Fachkräfte- und Handwerkermangel bedrohen den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ein Grund dafür ist die Vernachlässigung des dualen Ausbildungssystems. Es ist politisch gewünscht, dass möglichst jeder das Abitur erreicht. Doch der Akademisierungswahn der deutschen Bildungspolitik gefährdet Wohlstand und Fortschritt. Von Hans Peter Klein, in: Cicero vom 9. April 2022

In der aktuellen Talkshow „Hart aber Fair“ griff Frank Plasberg ein für den Wirtschaftsstandort Deutschland immer bedrohlicher werdendes Szenario auf dem Arbeitsmarkt auf: „Die neue Arbeiter-Losigkeit: Warum gehen Deutschland die Fachkräfte aus?“ Ob Pflegekraft, Kellnerin oder Handwerker – in Deutschland fehlten überall Fachkräfte. Die Unis seien voll, doch der Handwerkermarkt sei trotz oft guter Bezahlung leer. Was kann man da tun? Sind Fachkräfte aus dem Ausland die Lösung, womöglich die Menschen aus der Ukraine eine Hilfe? Darüber diskutierten die Gäste mehr oder weniger diffus an diesem Abend.

Schauen wir uns die für diese Entwicklung ursächlichen Fakten einmal näher an. Fakt ist, dass die Hochschulen seit etwa einem Jahrzehnt von immer mehr Studierwilligen geflutet werden. Fast alle Universitäten haben binnen kürzester Zeit ihre Studentenzahlen um mehr als 50% erhöhen müssen, wie beispielsweise die Goethe-Universität Frankfurt von noch knapp unter 30.000 Studenten zu Beginn des letzten Jahrzehnts bis hin zu rund 47.000 nur wenige Jahre später. Die schon in den 90er-Jahren befürchteten Massenuniversitäten mit deutlich verschlechterten Lernbedingen sind heute Realität. Was aber ist der Grund, und was sind die Folgen dieser Entwicklung?

Spätestens seit der Pisa-Studie 2000 wurde insbesondere Deutschland kontinuierlich auf die Anklagebank des Pisa-Chefs der OECD in Paris, Andreas Schleicher, gesetzt. Im internationalen Vergleich sei die Abiturientenquote viel zu gering. Der Wirtschaftsstandort Deutschland sei in Gefahr, wenn nicht entsprechend gegengesteuert werde. Bildungsökonomen rechneten gleich vor, wie viele Prozente an zukünftigen Bruttosozialprodukten jährlich verloren gingen, wenn hier nicht sofort gegengesteuert würde.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) begab sich fatalerweise frühzeitig in die Gefangenschaft der empirischen Bildungsforschung, die ab der Jahrtausendwende wie ein Phoenix aus der Asche emporstieg. Frühzeitige Kritik vor allem aus den Erziehungswissenschaften an der bildungsökonomischen Entwicklung wurden als unerwünschtes Störfeuer abgetan, ihre Einsprüche schlichtweg missachtet. Die meisten Eltern waren allerdings durchaus erfreut, bedeutete dies doch das relativ sichere Abitur für ihre Zöglinge und die Aussicht auf deren Akademikerstatus.

Fakt ist weiterhin, dass in den 90er-Jahren die Abiturientenquote in den einzelnen Bundesländern noch zwischen knapp 20% und knapp unter 30% lag, je nach Bundesland. Schon damals wurde von Kritikern der Niveauverlust im Abitur gegenüber früheren Jahren kritisiert. Gut 20 Jahre später hat sich geradezu ein Wunder vollzogen: Bereits 2015 betrug die Abiturientenquote zwischen 40% und 55% je nach Bundesland, bei immer besser werdenden Durchschnittsnoten und einer exponentiellen Zunahme an Einser-Abituren. Tendenz fortschreitend. Gleichzeitig begrüßten nicht nur die Kultusministerien der Länder die inflationäre Vergabe des Abiturs. Bildungs- und Gewerkschaftsverbänden und auch so manchem Reformpädagogen kam diese politische Stoßrichtung gerade recht, war doch schon immer die als elitär betrachtete geringe Abiturientenquote ein Dorn in deren linkem Auge.
Wie aber ist es möglich, die Abiturientenquote binnen kürzester Zeit fast zu verdoppeln? Sind wir also in Deutschland doppelt so schlau wie noch vor 20 Jahren? Wohl kaum. Die Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: Man hat einfach insbesondere die fachlichen Anforderungen selbst an den Gymnasien auf politischen Druck hin teils massiv abgesenkt. Zahlreiche Vergleiche der Zentralabituraufgaben der einzelnen Bundesländer im Laufe der Jahre konnten dies zweifelsfrei nachweisen. Mathematische Leistungen, die in Baden-Württemberg noch in den 70er-Jahren jeder Realschüler in seiner Abschlussprüfung zu bearbeiten hatte, fehlen heute in diesem Schwierigkeitsgrad weitgehend, selbst in den Leistungskursen. Jährliche Rekorde bei den Durchschnittsnoten werden selbst in der Presse meist nur noch mit ironischen Kommentaren versehen.

Als Folge dieser Entwicklung strömen immer mehr nicht studierfähige Abiturienten an die Hochschulen. Auch dem BMBF in Berlin ist diese Entwicklung durchaus bekannt. Um nun die Durchfall- und Abbrecherquoten nicht ins Uferlose ansteigen zu lassen, wurden die Hochschulen angehalten, eine Art Nachhilfekurse für nicht studierfähige Studierwillige vor Aufnahme des Studiums anzubieten, in denen thematisch fachliche Grundlagen in den Fächern zu lehren sind, deren Vermittlung vormals die genuine Aufgabe der abiturvergebenden Schulformen war. Dass diese vom Steuerzahler durch das BMBF finanzierten Kurse in der Öffentlichkeit nicht so heißen dürfen, liegt auf der Hand. „Ein starker Start ins Studium“ beispielsweise klingt doch sehr viel positiver, und nur für derartige Wortkreationen gibt’s dann Geld. Allein an der Goethe-Universität Frankfurt schlägt dies mit einem zusätzlichen Budget von 42 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren zu Buche. Weiterhin wurden die klammen Hochschulen mit weiterem Geld zwecks Senkung der Misserfolgsquoten geködert: für jeden in der vorgesehenen Studienzeit zum Abschluss gebrachten Studenten gibt es bereits seit 2015 in fast allen Bundesländern Prämien von rund 4000 € und mehr (etwa in NRW).

Gleichzeitig wurde das duale berufsbildende System vor allem dadurch weiter ausgehöhlt, indem in einem vorher nicht gekannten Akademisierungswahn berufliche Ausbildungsgänge gleich massenhaft akademisiert wurden. Bereits 2018 boten 78 Universitäten, Hochschulen und Akademien 149 verschiedene Studiengänge allein in der Pflege an, davon 105 mit einem Bachelor- und 44 mit einem Masterabschluss. Laut „Studycheck“ gibt es derzeit 20.185 Studiengänge an 585 Hochschulen in Deutschland. Blumige Beschreibungen klingen eher wie Realsatire: Dentalhygiene und Präventionsmanagement, Service-Center-Management, Cruise-Management, Golf- Management, Accessoire Design, Coffee-Management, Citizenship, Civic Engagement oder Culinary Arts und Food Management. Für derartige Studiengänge kennt man im anglo-amerikanischen Raum einen zutreffenden Namen: „Micky-Maus-Studiengänge“, die schon allein wegen ihrer geringen Nachhaltigkeit letztlich ins Nichts führen. Die Absolvierenden sitzen in der oftmals zitierten „Bachelor-Falle“. Über- und Fehlqualifikationen sind die Folge.
Für das berufsausbildende System bleibt dann nur noch eine Restpopulation an Bewerbern übrig, die aufgrund der Absenkung der Ansprüche teilweise nicht mal über die grundlegenden Kompetenzen des Lesens, des Schreibens oder des basalen Rechnens verfügen. Das Ergebnis liegt auf der Hand: ein eklatanter Fachkräfte- und Handwerkermangel.

Das Beispiel der Schweiz widerlegt zudem die Aussagen der Bildungsökonomen für eine derartige Entwicklung. Man ist dort nicht auf die Propaganda der OECD hereingefallen und hat weiterhin eine Abiturientenquote von rund 20%. Entsprechend der OECD müssten dort die Lichter längst ausgegangen sein. Das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrer ausgeklügelten und stark geförderten beruflichen Ausbildung im dualen System hat die Schweiz die niedrigste Arbeitslosen- und Jugendarbeitslosigkeitsquote und eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen. Ganz im Gegensatz dazu haben Länder ohne duales System zwar deutlich höhere Akademikerquoten, wie etwa Großbritannien oder die südeuropäischen Länder, aber auch eine deutlich höhere Jugendarbeitslosigkeit. Nicht nur in südeuropäischen Ländern, auch in China und Australien ist längst von einem akademischen Prekariat die Rede.

Fakt ist auch, dass sich die Schere zwischen den Einkommen von Akademikern und Handwerkern und Fachkräften zusehends schließt. Das liegt schon allein an der Nachfrage und dem Angebot, dass auf Jahrzehnte hin knapp bleiben dürfte. In der Sendung „Hart aber Fair“ wurde vor der „Londonisierung“ gewarnt. Mittlerweile sind dort Headhunter vielfach unterwegs, um Handwerker ausfindig zu machen. Diese können aufgrund der enormen Nachfrage finanziell verlangen, was sie wollen. Teilweise finden Bietverfahren statt. Jeder, der im Ahrtal oder der Eifel vom Hochwasser heimgesucht wurde, weiß, dass der Wiederaufbau keine Frage des Geldes, sondern der nicht vorhandenen Handwerker und Fachkräfte im Baubereich ist. Es wird noch viele Jahre dauern, bis alle Schäden auch an der Infrastruktur behoben sein werden. Ohne die teilweise aus dem Osten stammenden und dort angemeldeten Handwerkerkolonnen geht derzeit in diesen Regionen gar nichts. Auch der politisch binnen kürzester Zeit eingeforderte Ausbau der erneuerbaren Energien, der Hausdämmung, der Solardächer der Wärmepumpen u.a. wird weniger am Geld als an den nicht vorhandenen Kapazitäten im Handwerker- und Fachkräftebereich scheitern.

Zu glauben, dass jetzt in großem Maße Hilfe aus der Ukraine kommt, ist wenig empathisch. Die Menschen aus der Ukraine haben andere Sorgen, als Lückenbüßer für eine verfehlte Bildungspolitik in Deutschland zu sein. Da müssen wir uns schon an die eigenen Nase fassen. Außerdem hat uns 2015 gezeigt, dass diese Lücke durch die mehr als 800.000 syrischen Flüchtlinge von damals, die ja der Bevölkerung als bestens ausgebildet präsentiert wurden, nicht geschlossen werden konnte (laut Zeit vom 23. September 2021 bedürfen immer noch 67% der staatlichen Unterstützung). Auch hier ist möglicherweise ein Déjà-vu zu erwarten. Denn auch zwischen einem Bachelor oder Master einer Eliteuni aus den USA, Großbritannien, Ecuador, Syrien, der Ukraine, Marokko oder auch aus Deutschland liegen Welten im Anforderungsniveau. Dies ist einer der wesentlichen Gründe für die unterschiedliche Prosperität der entsprechenden Volkswirtschaften. Dies scheint sich bis in die obersten Kreise des BMBF, der Kultusministerien der Länder und der Politik generell noch nicht herumgesprochen zu haben.

Was ist zu tun? Man wird diese jahrzehntelange Fehlentwicklung nicht in wenigen Jahren in eine vernünftige Richtung leiten können. Eine sofortige 180-Grad-Drehung der Bildungspolitik durch die entsprechenden Institutionen des Bundes und der Länder ist gefordert, die allerdings jahrelang der Bevölkerung ins Ohr geflüstert haben, man könne nur als Akademiker ein zufriedenes und finanziell abgesichertes Dasein fristen. Zusammen mit der deutschen Wirtschaft, den Handwerker- und Fachkräfteverbänden muss sofort ein Bewerbungsprogramm in den Schulen und der Öffentlichkeit gestartet werden, dass dem dualen berufsausbildenden System eindeutig den Vorrang einräumt. Auch eine Umsteuerung in der finanziellen Zuwendung ist oberstes Gebot. Anstatt im Bildungsbereich weiterhin meist nutzlose Studien – dazu gehören auch die Pisa-Studien und alle ihre Abkömmlinge, mit denen die Schulen heimgesucht werden – mit zweifachen Millionenbeträgen pro Jahr auszustatten, ist dieses Geld in der Förderung der dualen Ausbildung in allen notwendigen Schritten sehr viel besser angelegt. Eine Thematisierung in den Schulen ist Voraussetzung dafür, dass die Schüler hier die verschiedensten Möglichkeiten der dualen Ausbildung vorgestellt bekommen. Gerade auch die digitale Transformation des Handwerks hin zu einer zunehmend digitalen Arbeitswelt darf in den Schulen nicht zu kurz kommen.

Dann werden auch die Hochschulen entlastet und können sich mit deutlich geringeren Studentenzahlen und wesentlich verbesserten Betreuungsverhältnissen der Forschung und Lehre wieder erfolgreicher widmen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können. Seit Jahren schafft es keine deutsche Universität im Shanghai-Ranking unter die ersten 50! (Aktuell erreicht die die LMU Platz 48 (!), die TUM Platz 54, Heidelberg 57 und Bonn den Platz 87.) Die ETH-Zürich – von vielen deutschen Bildungsexperten lange belächelt – zeigt, wie es geht, einen der Plätze unter den ersten 20 zu erreichen. Die ersten zehn Plätze sind stets den bekannten acht amerikanischen Elitehochschulen und den beiden bekannten britischen Hochschulen Oxford und Cambridge vorbehalten.

Mit „Hart aber Fair“ hat dieser Beitrag begonnen und soll damit auch enden. Frank Plasberg stellte in seiner Sendung leider erst zum Schluss einen Videoclip vor, in dem der Präsident des Zentralverbandes des deutschen Handwerks, Joseph Wild, vor 50 Jahren zu Wort kam: „Wir haben einen kolossalen Mangel an Facharbeitern, und man soll doch mit dem Irrtum aufhören, dass man aus dem letzten Dorftrottel einen Hochschulprofessor machen kann.“


Prof. Dr. Hans Peter Klein hatte bis 2018 den Lehrstuhl für Didaktik der Biowissenschaften der Goethe Universität Frankfurt inne, war Mitbegründer der Gesellschaft für Bildung und Wissen und ist Präsident der Gesellschaft für Didaktik der Biowissenschaften.

Weiterführende Informationen: H.P. Klein: Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt. ZuKlampen (2018)