Veröffentlicht am 25.02.20

Gegen die Ökonomisierung der Bildung

Bildung ist mehr als Kompetenzorientierung. Sie lässt sich nicht in Schemata pressen, normieren und skalieren. Das zeigt eine Publikation von Thomas Philipp (1).

Von Prof. Dr. Carl Bossard

Alles redet über Bildung. Vom Kampf um Bildungsressourcen ist die Rede, von Bildungsreserven, von Bildungsmanagement, von Bildungsexpansion, gar von Bildungsoffensive. Die Sprache zeigt sich militant.

Auch wenn bildungspolitische Postulate und Parolen anderes verkünden, ist die Tendenz eindeutig: Die Wissens- und Informationsgesellschaft reduziert Bildung auf Ausbildung. Spätestens seit PISA und Bologna dominiert das Kriterium der Effizienz. Gefragt sind direkt anwendbare Kompetenzen. Sie gehorchen dem Diktat der aktuellen Verwertbarkeit – und machen Kinder und Jugendliche, pointiert und als These formuliert, zu Puppen des Zeitgeistes.

Imperative des Funktionierens

 Die Philosophen haben die Schule den Pädagogen überlassen, schreibt der Jurist Bernhard Schlink in seinem Roman „Der Vorleser“. Und heute den Ökonomen und Empirikern, diagnostiziert das komprimierte und kluge Buch „Bildungsethik“ von Thomas Philipp. Grund genug zu fragen, warum „die öffentlichen Schulen nicht daran interessiert sind, gebildete Menschen hervorzubringen“, wie der Philosoph Robert Spaemann nüchtern festhält. Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung tut not. Diesem Bedürfnis kommt die neue Publikation nach. Sie analysiert den Bildungsdiskurs in der PISA-Ära.

Was ist für einen jungen Menschen wichtig, wenn er das Bildungswesen verlässt? Diese Frage formuliert das erste Kapitel. Der zweite Abschnitt beleuchtet die Gegenwart im Spiegel der Bildungsbegriffe von einigen grossen Bildungsdenkern wie Meister Eckhart, Johann Heinrich Pestalozzi und Hannah Arendt. Der dritte Passus konfrontiert deren Bildungsziele und Sprache mit dem Zielen von PISA, Bologna und den politischen Parteien. Dass hier humane Ziele hinter den Imperativen des Funktionierens verschwinden, erklärt im vierten Kapitel Jürgen Habermas‘ These von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“. Das Schlusskapitel plädiert für eine „gebildete Bildungspolitik“.

Nutzen und Profit

Es braucht diese „gebildete Bildungspolitik“; denn im PISA-Zeitalter untersteht vieles der Logik der Ökonomie. Der Mensch muss marktfähig und marktförmig sein. Die PISA-Studie selbst zielt ja auf den Homo oeconomicus. Es geht um die materiellen Bedingungen des Lebens, um Nutzen und Profit. Der Test soll darum bei 15-Jährigen jene Kenntnisse und Fähigkeiten messen, „die für das tägliche Leben relevant sind.“

So fordert es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Darum ist es nichts als konsequent, dass PISA einen reduktiven Kompetenzbegriff ins Zentrum stellt und nicht von Bildung spricht. Der Ausdruck ‘Bildung‘ passt nicht in diese Konzeption.

Der Wahn des Messens

Das Wesentliche der pädagogischen Aufgabe aber besteht in der Persönlichkeitsentwicklung – und damit in der Kunst des Ermöglichens – mit den individuellen und sozialen Prozessen des Wahrnehmens und Sich-Ausdrückens, des Suchens und Ordnens, des Nachdenkens und Problemlösens. Die Schule soll lehren, wie man denkt – und nicht, was man denkt. Das nennt sich divergentes Denken.

Heute zielt fast alles auf das Steuern und Lenken, so der Befund von Philipps lesenswerter Publikation. Hinter diesem Begriffspaar verbirgt sich eine der zentralen Kategorien des neuen Bildungsverständnisses. Die Dominanz der Steuerung im Sinne soziökonomischer Funktionstüchtigkeit kanalisiert und dynamisiert Lehren und Unterrichten.

Dieser Primat segelt unter dem Vorzeichen von Qualitätsentwicklung, Qualitätsmanagement und Evaluation. Kompetenzstandards normieren den Output von Lern- und Ausbildungswegen. Die erwarteten und als relevant bezifferten Bildungseffekte werden in ein testfähiges Format transformiert. Mit den Messmethoden der empirischen Bildungsforschung sind sie erfassbar und kontrollierbar. So wird Bildung geplant und gesteuert, limitiert und formatiert, in Ankreuztests und Messung reproduziert. Die Resultate münden nicht selten in Rankings.

Kultivierung, nicht Konditionierung

Wenn man Lernen und Bildung mit Messbarkeit koppelt, dann impliziert das in letzter Konsequenz den Ausschluss metaphysischer Probleme aus dem Bildungsbegriff. Denn wie lässt sich eine kognitive, soziale, emotionale Persönlichkeitswerdung und Urteilfähigkeit vermessen?

Gemäss Lehrplan 21 soll sich jedes schulisch vermittelte Wissen als ein Können kontrollieren lassen; es sind sogenannte Skills. Der Unterricht orientiert sich an formalen Fertigkeiten. Inhalte verschwinden, oder sie werden zu reinen Trainingsobjekten degradiert. Der Bildungsbegriff verliert so jede intellektuelle und wohl auch kognitive und emotionale Attraktivität. Pädagogisch angeleitete Bildung aber ist im ursprünglichen Sinne Kultivierung, nicht umfassende Konditionierung.
Bildung bedarf der Inhalte, nicht der blutleeren Abstraktion. Bildung hat mit Wissen und Erkenntnis zu tun. Der Weg dorthin ist zuweilen eine rechte Plackerei und keine Schnellstrasse. Spass allein genügt nicht. Wir brauchen aber Bildung, weil es eine Welt ausser uns gibt. Diese Welt ist uns zunächst fremd. Wir müssen sie uns erschliessen, müssen uns das Fremde aneignen. Die Welt als Metapher für das Fremde, um es mit Wilhelm von Humboldt zu sagen, und Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt.

Bildung folgt keinem „um zu“

Das ist anstrengend und erfolgt nicht nach den Parametern von Effizienz und Nützlichkeit. Wie sonst kann man mit Kindern über Aristoteles‘ Idee eines gelingenden menschlichen Lebens philosophieren? Oder über die Frage, was gerecht und was ungerecht ist? Wie lässt sich ein Hilde-Domin-Gedicht gewinnbringend unterbringen, was zählt Faust im Kontext der Gewinnmaximierung, was das Nachdenken über die Kopernikanische Wende oder die Heisenbergsche Unschärferelation?

Das ist das eine: Bildung als individuelle Verwirklichung der Kultur. Unter Bildung versteht man auch, dass sich eine Persönlichkeit formt, die selbständig denkt, in verantworteter Eigenständigkeit ihren Weg geht und die nicht nur mittels Anpassung funktioniert. Das Denken muss über die sogenannten Tatsächlichkeiten hinausreichen. Das Alltagswissen braucht übergeordnetes ethisch-kulturelles Orientierungswissen. Nur so werden wir eigenständig und damit Gestalter und Autoren unseres Lebens.

Wer Bildung dagegen einseitig vom gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedarf her betrachtet, der generiert Puppen des Zeitgeistes und verfehlt, was mit Bildung gemeint ist. Bildung führt zur Selbstwerdung des Menschen; darum folgt sie in letzter Instanz keinem „um zu“; sie ist kein Mittel zu einem Zweck, sondern vertritt ein Ziel: die Autonomie des Menschen, die Mündigkeit des Einzelnen, die Souveränität des Individuums. Philipps Buch ist ein wunderbares Plädoyer wider den dumpfen Imperativ des Funktionierens.


1) Thomas Philipp (2019) Bildungsethik. Das werdende Ich jenseits des Funktionierens. Bern: hep verlag ag.