Veröffentlicht am 01.04.22

Erziehung zur Denksensibilität

Ein Beitrag von Prof. Dr. Gordan Varelija.

Erziehung zur Denksensibilität

Im pädagogischen Denken und Handeln ist ein Trend erkennbar, über formale Vorgaben eine scheinbare Sensibilisierung zu verschiedensten Themen herstellen zu wollen. Manche Vorgaben zeigen beispielsweise im Hochschulbetrieb auf, wie wissenschaftliche Texte zu verfassen sind, ohne eine Gruppe zu diskriminieren. Solche Vorgaben sind nicht zu hinterfragen, sie stehen nicht zur Diskussion. Von den Lehrenden wird erwartet, dass sie diese entsprechend umsetzen, nicht mehr und nicht weniger.
Andere Vorgaben weisen darauf hin, wie Studientexte ausgewählt werden müssen, ohne Studierende zu irritieren. Dabei werden Kriterien definiert, um teilweise Texte aus dem Studium auszugrenzen. Einige Texte werden erst durch die Kriterien für das Studium relevant. Sie erhalten eine Relevanz, die sie auf inhaltlicher, argumentativer Ebene vielleicht gar nicht hätten. Schlüsselwörter dienen dabei als Suchkriterien. Sind bestimmte Schlüsselwörter nicht ausreichend vorhanden oder nicht im gewünschten Kontext, so steht es schlecht um den Text, mag er unter einer pädagogisch-systematischen Perspektive betrachtet, eine klar strukturierte Argumentationslinie aufweisen. Über die Frage, von welcher Irritation wir bei Studierenden beim Studieren bestimmter Texte an dieser Stelle ausgehen, wird kaum diskutiert.
Im schulischen Unterricht werden bei Lehrer:innenkonferenzen neue Vorgaben verkündet, wie Unterricht für alle Schüler:innen sensibel zu gestalten ist. Diese Vorgaben sind von einem auf den anderen Moment präsent und mit sofortiger Wirkung umzusetzen. Wie die eine oder andere Vorgabe pädagogisch zu begründen ist, wird in diesen Konferenzen nicht ausgeführt.
Formal sind diese Richtlinien durch wenige Umstellungen im pädagogischen Handeln möglicherweise leicht einzuhalten. Unter Beachtung einer Bildung als Selbstbestimmung im pädagogischen Dialog ist der Zugang zur Sensibilisierung komplexer zu betrachten. Political Correctness und die entsprechende sensible Haltung sind nicht, wie oft gewünscht bei Studierenden und Schüler:innen, leicht herstellbar. Möglicherweise wäre es sogar unpädagogisch, wenn Sensibilisierung herstellbar wäre? Es wäre ein kurzer Weg zur Manipulation und ideologischer Prägung.
Durch die Einhaltung von Vorgaben im pädagogischen Tätigkeitsfeld soll also Sensibilität bei Lehrenden, Studierenden und Schüler:innen aufscheinen. Ist aus der pädagogischen Perspektive heraus ein Weg über die kritische Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten, die zum Thema Sensibilität führen, nicht sinnvoller als rein formal aufgesetzte, nicht zu hinterfragende, Vorgaben? Sind Bildungsinhalte, die aus verschiedenen Positionen heraus Themen aufgreifen, nicht eine Bedingung für die Möglichkeit zum Verstehen? Führt uns Verstehen zu einer Urteilskraft und inneren Haltung?
Formale Vorgaben sind leicht zu überprüfen, sie können in einen Kriterienkatalog beim Controlling des pädagogischen Denkens und Handelns eingetragen werden. Von der formalen Einhaltung von Geboten im (Hoch-) Schulbetrieb die so dringlich eingeforderte Sensibilität in der Lehre und Forschung abzuleiten, scheint mir nur oberflächlich möglich. Wie soll durch das Controlling von immer enger werdenden Vorgaben zur Sensibilisierung in pädagogischen Phänomenen die gewonnene Urteilskraft der Lernenden erkennbar werden? Möglicherweise ist es ein grundlegender Irrtum, ein pädagogisches Thema wie Sensibilität im Denken und Handeln herstellbar, überprüfbar und bewertbar gestalten zu wollen. Wem sollte damit gedient sein? Kontrollierbar bleibt folglich auf Studierenden- und Schüler:innenseite lediglich ein oberflächliches Aufzeigen von Vorgaben, die sie gut oder schlecht wiedergeben.
Ich denke, eine anzustrebende Denksensibilität bei den Lernenden ist das primäre pädagogische Ziel. Eine Denksensibilität ist aber nicht so einfach herzustellen, sie kann nicht so leicht in ein Kompetenzraster eingetragen werden. Wenn sich Lernende Bildungsinhalte im pädagogischen Dialog erarbeiten, so lernen sie möglicherweise Argumente und Gegenargumente zu formulieren, sich ein erstes Urteil zu bilden, dieses kritisch zu hinterfragen. Es entsteht eine erste Denksensibilität zu den verschiedensten gesellschaftlichen Themen, d.h. statt eine unreflektierte Meinung zu äußern und in Stereotypen zu verharren, werden Argumente geprüft und kritische Diskussionen geführt. Durch diesen pädagogischen Zugang einer Erziehung zur Denksensibilität ist statt einer reinen Einhaltung von Vorgaben, eine innere, nachhaltigere Haltung von Studierenden und Schüler:innen zu wichtigen gesellschaftlichen Themen möglich.
Denksensibilität bedeutet folglich auf die Position anderer eingehen können, sensibel sein Denken zu hinterfragen und sensibel sich der Welt zu nähern, Bildung also. Die Bedingung für die Möglichkeit dieser Denksensibilität ist im verstehenden (Hochschul-) Unterricht zu finden.
Denksensibilität scheint doch ein ursprünglich-pädagogisches Ziel zu sein, wenn auch begrifflich anders gewendet. Sensibilität ist in dem hier angedeuteten Sinn nur durch Bildung möglich, wodurch sonst, wenn es kein oberflächliches Kriterium bleiben soll. Denksensible Schüler:innen, Studierende und Lehrende zeichnen sich durch eine offene Zugangsweise zueinander, zu verschiedenen Positionen und Argumenten aus. So gebildet hat man keine Angst von Texten im Studium irritiert zu werden, nein, man freut sich sogar darauf. Denksensibel bedeutet eben eine innere gestärkte Haltung zu erwerben mit der man der Welt begegnet und nicht zugleich alles glauben zu müssen, auch wenn es im Internet steht.
Werden Kernthemen der Gegenwart für die Lehre ausgerufen und sollen Lehrende auch noch so sensibel wie möglich beim Lehren agieren, so werden wir uns fragen müssen, wie wir uns dieser Aufgabe nähern, wie Sensibilität in diesen Themenbereichen zu verstehen und als Teil der Bildung zu ermöglichen ist.
Reicht es also Sensibilität als Kompetenz einzuordnen und formal durch die Einhaltung von Vorgaben zu überprüfen oder ist Bildung in diesem Bereich doch was Anderes? Formale Vorgaben im pädagogischen Diskurs mögen eine Wirkung haben, Schüler:innen, Studierende und Lehrende brauchen für einen Bildungsprozess mehr. Wie wichtig das ist, zeigen ständig veränderte gesellschaftliche Strukturen. Auf diese müssen Schüler:innen und Studierende denksensibel und verantwortlich für eine gemeinsame bessere Zukunft eingehen können. Ein hohes Ideal, aber gleichzeitig ein pädagogisches. Entspannen wir uns vielleicht mit zu viel Vorgaben in der Pädagogik und wenden uns wieder mehr Bildungsinhalten und dem pädagogischen Dialog zu. So erziehen wir zur Denksensibilität.

Weiterführende Literatur
Gruschka, A. (2019). Erziehen heißt Verstehen lehren. Dietzingen. Reclam Verlag
Paret, C. (2020). Schiffbruch ohne Zuschauer. Lettre International, 29-31.
Schirlbauer, A. (2005). Die Moralpredigt. Destruktive Beiträge zur Pädagogik und
Bildungspolitik Wien. Sonderzahl.