Veröffentlicht am 21.10.15

Eine einfache Durchakademisierung der Bevölkerung ist kontraproduktiv

Im Interview mit PROFIL: Professor Julian Nida-Rümelin von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Professor Hans Peter Klein von der Goethe-Universität Frankfurt/Main.

DIRK FRANK: Herr Nida-Rümelin,Herr Klein, die beiden Psychologen Rolf van Dick und Holger Horz von der Goethe- Universität bestreiten in ihrem UniReport-Essay vehement, dass sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen verschlechtert habe. Sie behaupten ferner, dass es Akademikern nach wie vor besser gehe als Nicht-Akademikern. Einkommenslevel und Beschäftigungsquote befänden sich trotz gestiegener Akademikerzahlen auf überdurchschnittlichem Niveau.

PROF. JULIAN NIDA-RÜMELIN: Die entscheidende Frage ist die nach den Bewertungsmaßstäben von Bildungssystemen. Nicht der einzige, aber einer der wichtigsten Bewertungsmaßstäbe ist, ob der Übergang von der Bildungsphase in die Berufsphase gut gelingt oder nicht. Ein Indikator ist die Jugendarbeitslosigkeit. Die drei OECD-Staaten mit der niedrigsten Akademikerquote, nämlich Deutschland, Österreich und der Schweiz, weisen zugleich die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aller OECD-Staaten auf. Großbritannien mit einer vergleichbaren allgemeinen Arbeitslosigkeit wie Deutschland hat eine doppelt so hohe Akademikerquote und eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit. Wer also fordert, das britische Beispiel nachzuahmen, wie es gegenwärtig en vogue ist, nämlich die Akademikerquote auf das britische Niveau anzuheben, sollte zugleich diese Forderung mit dem Warnhinweis versehen: »Vorausgesetzt, Sie sind bereit, auch eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen«. Hinzu kommt, dass Deutschland im Gegensatz zu Frankreich oder Großbritannien nicht deindustrialisiert ist, also auf Handwerker und Techniker in hohem Maße angewiesen ist. Vielleicht wollen ja die, die Großbritannien als Bildungsgroßmacht zur Nachahmung empfehlen, über die Hintertür diesen Konkurrenzvorteil Deutschlands beseitigen, also eine Deindustrialisierung einleiten, die in Deutschland, anders als in Frankreich oder Großbritannien, eben nicht stattgefunden hat. Das verarbeitende Gewerbe in Deutschland hat einen dreimal so hohen Anteil am Bruttoinlandprodukt wie in Frankreich oder in Großbritannien. Was die Einkommenslevel angeht, so empfiehlt es sich, die verfügbaren empirischen Daten in ihrer Differenziertheit, wie sie von Destatis alle vier Jahre vorgelegt werden, zur Kenntnis zu nehmen. Die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste vollzeitbeschäftigter Gymnasiallehrer liegen bei 4039 Euro, die der Dolmetscher und Übersetzer bei 3635 Euro, die der Bibliothekare, Archivare und Museumsfachleute bei 3205 Euro, während Maschinenbautechniker bei 4373 Euro, Bankfachleute (nicht-akademisch) bei 4317 Euro, Industriemeister und Werkmeister bei 4219 Euro, Elektrotechniker bei 4103 Euro liegen. Anderthalb Jahre nach Studienabschluss verdienen Sprach- und Kulturwissenschaftler im Jahr durchschnittlich 19 150 Euro (Bruttojahresgehalt), Naturwissenschaftler liegen sogar noch darunter, bei 18 400 Euro. Ganz oben rangieren Humanmediziner, immer noch mit 44 450 Euro, Ingenieurwissenschaftler und Informatiker. In der Tat gibt es in diesem Bereich anhaltend immer noch einen hohen Bedarf, der die Steigerungsraten erklärt. Weitaus ungünstigere Beschäftigungs- und Einkommensaussichten betreffen den gesamten Bereich der Geistes-, Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie zunehmend auch der Rechtwissenschaften.

PROF. HANS PETER KLEIN: Selbstverständlich gibt es nach wie vor auch Spitzenverdiener und gut Verdienende unter dem akademischen Nachwuchs, von deren Gehältern sich aber eine zunehmende Anzahl an akademischen Geringverdienern nichts kaufen können. Es ist doch mehr als offensichtlich, dass sich immer mehr Hochschulabsolventen in den ersten Jahren nach ihrem Abschluss in einer Art struktureller Arbeitslosigkeit befinden, da viele von ihnen sich durch anderweitige Tätigkeiten, Praktika, Selbsterspartes oder durch Zuschüsse ihrer Eltern weiter über Wasser halten. Fakt ist auch, dass die meisten Bachelor-Absolventen entweder einen Master anschließen müssen, da der sechssemestrige Bachelor entgegen den Erwartungen als berufsqualifizierender Abschluss auch von der Wirtschaft kaum angenommen wird. Viele müssen danach sogar eine zusätzliche Ausbildung beginnen, die noch um die Jahrtausendwende von Realschulabsolventen, in den letzten zehn Jahren zunehmend auch von Abiturienten erfolgreich absolviert werden konnte. Der Verdrängungswettbewerb der Bildungsabschlüsse ist mehr als kontraproduktiv, er setzt Eltern, Lehrer, Schüler und Studenten unter einen immer größeren Leistungsdruck, der oft schon im Kindergarten beginnt. All das wird von dem gebetsmühlenartig vorgetragenen Zahlenmaterial der OECD überhaupt nicht erfasst. Niemand interessiert sich für die persönlichen Schicksale der Betroffenen, deren Selbstwertgefühl bei nicht Erreichen einigermaßen akzeptabler und bezahlter Beschäftigungsverhältnisse einen nachhaltigen Dämpfer erhält, da sie mit ganz anderen Versprechungen an die Hochschulen gelockt wurden.

Das ganze PROFIL-Interview zum Weiterlesen als PDF: 10_2015_Interview Klein_Nida Rümelin