Veröffentlicht am 02.04.17

Digitalpakt mit Tücken

Gastbeitrag von Edwin Hübner, erschienen in: in „Erziehungskunst – Waldorfpädagogik heute“ 04/2017

»Wir müssen bei der digitalen Bildung einen großen Sprung nach vorn machen« – lautet ein Satz aus der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Oktober 2016, die eine neue Bildungsoffensive vorstellte: Einen »DigitalPakt#D«, der mit den Bundesländern geschlossen werden soll. Das Ministerium bietet an, fünf Jahre lang insgesamt fünf Milliarden Euro an Schulen zu verteilen, damit sich diese mit digitaler Infrastruktur ausstatten können: Breitbandanbindungen, WLAN sowie Geräte. Dafür sollen sich die Länder verpflichten, entsprechende pädagogische Konzepte zu entwickeln und die dazu benötigten Lehrerinnen und Lehrer aus- und fortzubilden und gemeinsame technische Standards umzusetzen.

Man muss nicht unbedingt an den »großen Sprung nach vorn« denken, mit dem Ende der 1950er Jahre Mao Tse-tung die chinesische Volksrepublik in das moderne Zeitalter katapultieren wollte – was ja bekanntermaßen in einem Desaster endete. Es reicht, wenn man nur 20 Jahre zurückblickt. Als das Internet begann, populär zu werden, gab es Mitte der 1990er Jahre eine große Kampagne, die sich für eine großflächige Ausstattung der Schulen mit Computern aussprach. Manche redeten gar von einer Revolution des Lehrens und Lernens durch den Einsatz von Computern und Lernsoftware – beispielsweise der Informatiker und Mathematiker Seymour Papert. Die 1996 von dem damaligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers und dem früheren Telekom-Chef Ron Sommer ins Leben gerufene Initiative »Schulen ans Netz« erreichte es, dass fünf Jahre später offiziell »die letzte Schule in Deutschland ans Internet angeschlossen« wurde.

Man investierte weltweit enorme Summen in die Ausstattung mit Computertechnologie. Es gab Vorzeigeprojekte, die vielfach besprochen wurden. Zehn Jahre später machte sich Ernüchterung breit und etliche der Vorzeigeschulen schlossen die Laptops in die Schränke weg. Eine Vielzahl von Untersuchungen zeigte, dass die Ausstattung der Schulen mit neuer Technik nicht zu einer Steigerung der Lernerfolge führte, sondern diese eher beeinträchtigte.

Der »große Sprung« von 1996 endete zehn Jahre später mit einer Bauchlandung. Nun also – 2016 – wieder ein Versuch. Diesmal wird er allerdings sehr viel kritischer kommentiert – auch von der breiten Öffentlichkeit. Eine häufig geäußerte Kritik bezieht sich auf den miserablen Zustand der Schulgebäude. Viele Stimmen fordern, dass man das Geld lieber dafür nutzen solle, marode Schulgebäude so zu renovieren, dass sie elementaren Ansprüchen eines hochtechnisierten Landes entsprechen, beispielsweise den Kindern hygienische Toiletten zur Verfügung zu stellen.

Trojaner aus Berlin

Auch von wissenschaftlicher Seite wurden kritische Einwände erhoben. Unter dem Titel »Trojaner aus Berlin: DigitalPakt#D« stellten Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Pädagogen in einer Petition Forderungen auf, was anstelle der Investitionen in IT-Technologie zu leisten sei:

  •   Die Schule ist von den Menschen her zu denken und deswegen sind mehr Lehrkräfte, Mentoren und Tutoren nötig und nicht Geräte.
  • Lehrkräfte sollen selbst über den Einsatz von IT-Technologien im Unterricht entscheiden dürfen.
  • Die Nutzung elektronischer Geräte darf für Kinder nicht verpflichtend sein. Ein Kind muss ohne Benachteiligung am Unterricht teilnehmen können, wenn es kein Gerät benutzt.
  • Die bei der Nutzung von IT-Technologien anfallenden Daten müssen nach deutschem Recht geschützt werden.
  • Da Bildschirmmedien in den ersten Schuljahren nicht förderlich sind, »müssen Kitas und Grundschulen in der direkten pädagogischen Arbeit IT-frei bleiben«.
  • Eine intensive Förderung der Grundkenntnisse im Rechnen und Schreiben ist sehr viel nachhaltiger für die Bildungsbiografie.
  • Der Einsatz von Medientechnik ist im Unterricht immer von einer pädagogischen Perspektive aus zu befragen und zu beurteilen.

Unter dieser Voraussetzung kann sie im Unterricht verwendet werden, aber nicht aufgrund verpflichtender Vorschriften. In den anschließenden Ausführungen der Petition werden diese sieben Forderungen begründet und in einen größeren Zusammenhang hineingestellt. Dabei wird deutlich, warum die Petition »Trojaner aus Berlin« genannt wird, denn die für sich genommen riesige Summe von fünf Milliarden stellt nur einen geringen Teil der Kosten dar, die auf die einzelnen Schulen zukommen. Die Folgekosten für Reparaturen, Technikereinsatz, Updates, Softwarelizenzen betragen ein Vielfaches, gehen weit über die fünf Milliarden hinaus – und dann sind noch immer keine Lehrkräfte ausgebildet und bezahlt oder Räume beheizt. Es würde viel Geld ausgegeben, das letztlich nur die Bilanzen der IT-Unternehmen stärkt.

Schule – das sind die Menschen!

Man macht wieder einmal denselben Fehler wie schon so oft im 20. Jahrhundert: Man glaubt, durch den Einsatz von Technik das Lehren und Lernen verbessern zu können. Aber man denke nur an den Hype um das programmierte Lernen in den 1950er und 1960er Jahren, an das Schulfernsehen oder die Sprachlabore. Auch damals wurde viel Geld letztlich sinnlos ausgegeben. Dabei weiß man spätestens seit Mitte der 1960er Jahren durch die von James S. Coleman durchgeführte, 600.000 Schülerinnen und Schüler umfassende US-amerikanische Studie, dass Lernfortschritte der Kinder vor allem vom sozialen Klima der Klasse, dem Engagement der Lehrerinnen und Lehrer sowie dem familiären Hintergrund der Kinder abhängen. Jüngst bestätigte die sogenannte Hattie-Studie, die 800 Metaanalysen von vielen tausend Studien auswertete, den Befund, dass in der Schule vor allem die Pflege der persönlichen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden wichtig ist. Es kommt darauf an, ob die Lehrerinnen und Lehrer es schaffen, ein Lernklima zu schaffen, das den sozialen Zusammenhalt in der Klasse stärkt, Toleranz fördert und zu gegenseitiger Hilfe anregt. »Die größten Effekte auf das Lernen treten dann auf, wenn Lehrpersonen in Bezug auf das Lehren selbst zu Lernenden werden und wenn Lernende zu ihren eigenen Lehrpersonen werden«, schreibt John Hattie. In der Schule stehen die Beziehungen der Menschen zueinander und zu den jeweiligen Sachthemen im Mittelpunkt.

Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass in den Schulen zuerst in die Arbeit von Menschen investiert werden muss. Die Menschen und ihre individuelle Entwicklung stehen im Zentrum der schulischen Arbeit, alles andere ist nur Hilfsmittel – auch vernetzte Computer. Es würde die Diskussion um Medien in der Schule einen großen Sprung vorwärtsbringen, wenn das auch auf der politischen Ebene eingesehen würde.

Zum Autor: Prof. Dr. Edwin Hübner war Lehrer für Mathematik, Physik und Religion an der Freien Waldorfschule Frankfurt/Main. Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik, Sinnes- und Medienökologie (IPSUM) in Stuttgart. Derzeit Dozent an der Freien Hochschule Stuttgart. Autor mehrerer Sachbücher
zum Thema Medienerziehung.

Link:
Das Medienkonzept der Waldorfschulen ist in Kurzform in der Broschüre »Struwwelpeter 2.0« zusammengefasst.)

Literatur:
J. Hattie: Das Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2015
E. Hübner: Medien und Pädagogik, Stuttgart 2015